Eine schreckliche Nacht

[51] Der Arzt und der Wirt redeten so lange auf den armen Mister Stopps ein, bis dieser sich entschloß, ins Bett zu gehen. Der Wirt brachte ihm noch einen Punsch, davon trank er sechs Gläser, und danach war er so schläfrig, daß er, freilich unter Tränen, einschlief. Das große, himmelblaue Taschentuch lag auf seinem Gesicht. Man hätte nun denken können, Mister Stopps werde vom blauen Himmel träumen, aber den ängstigten böse, schreckhafte Träume. Räuber wollten in sein Zimmer eindringen, sie rasselten und sägten schon an der Türe herum. Mister Stopps stöhnte vor Angst, aber plötzlich erklang das Sägen so laut, daß er erwachte und gespannt horchte.

Himmel, das war ja gar kein Traum. Das sägte und rasselte weiter, und dabei war stockfinstere Nacht. »Hilfe, Hilfe!« brüllte Mister Stopps. »Hiiiilfe!«

Aber er konnte schreien, soviel er wollte, niemand kam, und nach kurzer Zeit hörte das Rasseln auf. Mit zitternden Fingern versuchte Mister Stopps Licht zu machen, aber das wollte ihm nicht gelingen, und angstvoll verkroch er sich in sein Bett. Vielleicht hatte sein Geschrei die Räuber verjagt?

Er lauschte lange, tief versteckt unter dem dicken Federbett, und schwitzte. Es war aber alles still.

Lange, lange blieb es so, und Mister Stopps war gerade wieder am Einschlafen, als das Sägen von neuem losging. Entsetzt sprang Mister Stopps aus dem Bett. Er nahm seine Reisepistole vom Tisch, zielte im matten Dämmerschein des[51] frühen Morgens gerade auf die Tür, und schoß los. Bums, dröhnte es durch das Haus.

»Hiiilfe! Hiiilfe!« klang es aus allen Stockwerken. Der Wirt, das Hausgesinde, alles rannte herbei, und der Wirt rief draußen vor Mister Stopps' verschlossener Tür: »Sind Sie tot?« Mister Stopps war über den Knall selbst so erschrocken, daß er auf dem Boden saß und den Mund nicht vor Angst aufbrachte. Er verstand kein Wort von dem Rufen draußen.

»Um alles in der Welt, sind Sie tot? Antworten Sie doch!«

»Ich meine, wenn er tot ist, kann er nichts mehr sagen«, brummte der Nachtwächter, der auch herbeigekommen war.

Das stimmte nun freilich.

»Holt ein Beil, wir schlagen die Türe ein«, befahl der Wirt.

Mister Stopps hörte die Worte, erkannte aber die Stimme nicht, und er dachte: Nun wird es ernst, jetzt schlagen die Räuber die Türe ein. Er suchte seine Pistole, aber die war wer weiß wohin geflogen, und darum hielt es Mister Stopps für das beste, unter das Bett zu kriechen. Eins, zwei, drei – doch ging er nicht ganz darunter, er war zu lang dazu, seine Beine guckten weit hervor und verrieten ihn sofort.

»Krach, krach!« tönte es an der Türe.

»Oh – oh!« stöhnte Mister Stopps.

Da sprang die Türe auf, und der Wirt, Hausknecht, Nachtwächter, der Arzt, die Köchin, die Mädchen, alle stürzten sie in das Zimmer, und der Wirt rief: »Da liegt er tot unterm Bett.«

»Ich meine, dann täte er nicht so zappeln. Wenn einer tot ist, hält er seine Beine ruhig.« Buchholz hatte wieder recht.

»Mister Stopps, o Mister Stopps!« Der Wirt packte ein Bein, Buchholz das andere, beide zogen, aber Mister Stopps,[52] der meinte, dies wären nun die Räuber, brüllte aus Leibeskräften und hielt sich am Bettpfosten fest.

»Seien Sie doch ruhig, wir reißen Ihnen sonst noch die Beine aus.« Buchholz meinte es sehr gut, aber Mister Stopps verstand nur, ihm sollten die Beine ausgerissen werden. Er brüllte immer lauter und merkte gar nicht, daß der Wirt ihm zuredete.

Es dauerte jedoch nicht lange, da war Mister Stopps unter dem Bett hervorgezogen, und Buchholz sagte verwundert: »Sein Kopf ist noch dran, darum konnte er auch so schreien.«

»Oh, no, nicht meine Beine ausreißen, nicht Kopf abschlagen«, jammerte und stöhnte der arme Mister Stopps.

»Das wollen wir ja gar nicht!«

»Uollen Sie Geld? Rauben Sie alles, nur morden Sie mir nicht!«

»Jemine, der denkt wahrhaftig, wir sind die Räuber.«

Buchholz war höchst verwundert, der Wirt nicht minder, aber die Köchin sagte auf einmal: »Hui, der ist ja im Schlafanzug!«

»Oh!« Jetzt erst merkte Mister Stopps, daß er in lauter bekannte Gesichter sah. Er riß rasch die Decke vom Bett, wickelte sich hinein und stöhnte: »Uo sein die Räuber?«

»Wer hat denn geschossen?«

»Ich schoßte!«

»Schoß!« rief Buchholz.

»Jes, ich schoßte, ueil Räuber an die Türe uaren.«

»Ih, bewahre!« rief der Wirt.

»Doch, ganz bestimmt!«

»Uh je, ich fürchte mich!«

»Ich auch, ich auch.« Die Mädchen drängten sich alle in eine Zimmerecke, in der noch ein Bett stand. In dem hätte[53] eigentlich das arme Kasperle, das draußen im tiefen Brunnen lag, schlafen sollen.

»Das mit den Räubern ist doch Unsinn!« rief der Wirt.

»No, sein nicht Unsinn, sie haben gemacht »rrrrrr« an die Türe, und ich schoßte.«

»Schoß!« schrie Buchholz wieder, den das falsche Reden des Engländers sehr ärgerte. Der Nachtwächter war nämlich ein halber Gelehrter, der lieber Bücher las, als Nachtwache hielt.

»Yes, schoßte!« Mister Stopps wunderte sich sehr über den Widerspruch des Nachtwächters. Seiner Meinung nach sagte er alles richtig.

»Halt doch den Mund!« brummte der Wirt und gab Buchholz einen derben Rippenstoß. »So einem Herrn darf man nicht immer widersprechen. Jetzt suchen wir mal das ganze Haus ab vom Keller bis zum Boden!«

»Boden und Keller lassen wir lieber weg, da könnten sie sitzen.« Sehr mutig war der gute Buchholz nicht.

Aber der Wirt rief ärgerlich: »Feiger Kerl, alles wird abgesucht. Das wäre noch schöner, wenn nachher der Herr Engländer in der ganzen Welt erzählen könnte, in meinem Wirtshaus gäbe es Räuber.«

»Au, au!« jammerte die Köchin auf einmal und saß mitten im Zimmer auf dem Boden. »Da im Bett liegt jemand!«

»Potz Wetter, so 'n Unsinn!« Dem armen Wirt wurde es heiß vor Ärger. Er sah die Köchin grimmig an und schrie: »Ruhe!«

»Nä, da liegt jemand im Bett.«

»Au!« Das Küchenmädchen sprang auch von dem Bett auf und schrie: »Es liegt jemand drin!« Und nach ihr hopste das Stubenmädchen empor und klagte: »Mich hat jemand gepufft!«[54]

»Am Ende sind's die Räuber, die da drinnen liegen.« Buchholz legte den Finger an die Nase, um ernsthaft über den sonderbaren Fall nachzudenken, doch ehe er noch recht dazu gekommen war, tönte von dem Bett her ein sonderbares Gurgeln und Schluchzen, und alle im Zimmer sahen sich verdutzt an. Was war denn das?

»Da lacht jemand!«

Der Wirt sah sich erstaunt um.

»Yes, es lacht uo.«

»Sie da drinne, wenn Sie Räuber sin, dann komme Sie 'raus!« Buchholz stocherte mit seinem Nachtwächterspieß ein bißchen an dem Bett herum. Da – auf einmal wurde das Federbett hochgestrampelt, die Mägde flüchteten kreischend[55] in eine andere Ecke, und Mister Stopps schrie laut: »Uo sein meine Pistole?« Aber siehe da – –

Putzvergnügt kletterte Kasperle aus dem Bett heraus und machte gleich einige Purzelbäume, so daß die Mädchen wieder aus ihrer Ecke herauskamen.

»Oh, mein Kahspärle!«

»Jemine, Kasperle, du Strick, wo kommst du denn her?« rief der Wirt.

Mister Stopps aber riß Kasperle an sich, drückte und herzte es, daß Kasperle kaum Luft bekam. »Oh, du tust nicht liegen in das Brunnen?«

»Dem Brunnen«, verbesserte Buchholz.

»Nä!« Kasperle riß seinen Mund weit auf, gähnte alle an, tat einen Seufzer und klagte: »Hab solchen Hunger!« Aber damit kam der Schlingel diesmal nicht durch. Erst mußte er erzählen, ob er wirklich in dem Brunnen gelegen hatte.

»Freilich«, klagte er, »und arg schmutzig war's da!«

»Oh, lieber Himmel, und so hat er sich ins Bett gelegt!« Das Stubenmädchen hob empört das Bett hoch. »Und Heringssalat klebt auch dran!«

»So 'n Schmutzfink!« Die Köchin sah Kasperle wütend an. Aber der Wirt rief ärgerlich: »Stille da! Kasperle erzählt! Alle aufgepaßt! Warst du denn wirklich im Brunnen?«

Kasperle nickte. »Ich bin 'reingefallen und wieder 'rausgekrochen, weil sie alle so schreiten.«

»Schrien«, verbesserte Buchholz.

»Schrieten«, fuhr Kasperle fort. »Da hab ich mich ins Bett gelegt und da – hat jemand geschreit und geschoßt.«

»Geschrien und geschossen.«

»Halt doch dein Maul, du bist doch kein Schulmeister«,[56] ranzte der Wirt den Nachtwächter an, weil er sich über dessen Gehabe ärgerte.

»Aber uer hat denn ›rrrrrr‹ gemacht?« fragte Mister Stopps verwundert.

»Kasperle, aber Kasperle, was machst du denn?« Alle, die im Zimmer waren, umringten Kasperle. Das hatte sich plötzlich auf das Bett geworfen, wühlte seinen Kopf in die Kissen, gab sonderbare Töne von sich und strampelte mit den Beinen in der Luft herum.

»Er sterbt, er sterbt!« jammerte Mister Stopps unaufhörlich.

»Er ist übergeschnappt«, brummelte die Köchin.

»Ih, bewahre, potz Wetter, der lacht.« Der Wirt hob das strampelnde und zappelnde Kasperle hoch, und da sahen es alle, Kasperle lachte und lachte. Die Tränen kullerten ihm über die Backen, so sehr lachte es. Es lachte und lachte und konnte auf keine Fragen antworten. Da nahm der Wirt endlich einen Krug Wasser vom Waschtisch, und schwapp, bekam Kasperle das Wasser über den Kopf.

Patsch, da war es stille. Es schaute etwas verdutzt von einem zum andern, schüttelte sich wie ein Bäumlein nach einem Gewitterregen, tat endlich seinen Mund wieder auf und machte: »Rrrrrr.«

»Ja, so haben gemacht die Räuber.« Kasperle fing wieder an zu lachen, und der Wirt drohte: »Ich nehme die zweite Kanne.« Da wurde der Schlingel flugs still und sagte ein wenig kläglich: »Ich habe doch nur geschnarcht, ›rrrrrr‹, so mach' ich's immer.«

»Ooooh, uie seltsam! Äußerst komisch!«

»Er hat geschnarcht!« Der dicke Wirt fing plötzlich so zu lachen an wie vorher das Kasperle. Er lachte und lachte, Kasperle lachte mit, und Mister Stopps lachte. Auf einmal[57] war es, als raßle eine schlecht geölte Tür: Buchholz, der griesgrämige Nachtwächter, lachte. Die Mägde kicherten, zuletzt lachte selbst die verdrossene Köchin. Der Wirt mußte sich die Seiten halten. »Uff!« stöhnte er, »ich kann nicht mehr, ich falle um vor lauter Lachen!«

Und da, schwapp, hatte Kasperle geschwind die zweite Wasserkanne geholt und sie dem Wirt über den Kopf gegossen. Es dachte: Wie du mir, so ich dir.

Nun fand der Wirt aber, zwischen einem Wirt zum Goldenen Knopf und einem Kasperle wäre schon ein gewaltiger Unterschied. Er fing heillos zu schimpfen an, aber als er in das ganz verwunderte, blitzdumme Kasperlegesicht sah, mußte er wieder lachen, und Kasperle lachte mit. Patschnaß war der Kleine, aber er sah aus, als hätte er eben die allergrößte Herzensfreude erlebt.

»Das möchte man wirklich selbst behalten«, brummte der Wirt halblaut.

Aber Mister Stopps hatte die Worte doch gehört. Erschrocken nahm er sein Kasperle auf den Arm. »Ich hab ihn gekaufen, es sein mein Kahspärle!«

»Gekauft«, sagte Buchholz ärgerlich.

»Nä, er hat mich gekaufen.« Kasperle dachte, der brummige Wächter wolle ihn Mister Stopps streitig machen.

»Gekaufen!« rief Mister Stopps.

»Ja, gekaufen für zwei Millionen«, wiederholte Kasperle stolz. »Ge–«, wollte Buchholz verbessern.

»Still doch! Geh, tute draußen, daß es Morgen wird, die Hähne krähen schon bald«, schalt der Wirt. »Und Kasperle bekommt noch ein Stück Kuchen, damit es einschläft, sonst ist es morgen müde.« Damit waren alle einverstanden, Kasperle am meisten, das kuschelte sich bald vergnügt in sein Bett. Es hatte ein blitzsauberes Nachtröckchen an, und wenn[58] nicht das unnütze Kasperlegesicht gewesen wäre, man hätte es für einen braven kleinen Jungen halten können. Sein Wämslein nahm das Stubenmädchen mit hinaus. Sie wollte es schnell waschen, aber Mister Stopps sagte, Kasperle dürfe morgen sein feuerrotes Sonntagsjäcklein anziehen. Überhaupt bekäme Kasperle in der nächsten großen Stadt so viele bunte seidene Röcklein, wie es wolle. Sein Kasperle sollte fein angezogen dahergehen.

Rock hin, Rock her! Der Schlingel dachte jetzt nur an seinen Kuchen. Eins, zwei, drei, hatte er den verschlungen, und dann legte er sich um, und gerade, als auch Mister Stopps in sein Bett gestiegen war, tönte es laut durch das Zimmer »rrrrrr«. Kasperle schnarchte schon wieder.

Mister Stopps aber band sich eine gelbe Nachtmütze über die Ohren. Er seufzte, nein, in seinem Zimmer konnte Kasperle[59] nicht mehr schlafen, da würde er selbst keine ruhige Nacht mehr haben.

»Rissel, rassel, rrrrrr«, schnarchte Kasperle.

Mister Stopps, der wie eine große Zitrone aussah, seufzte. Er drehte sich nach links und drehte sich nach rechts, aber er konnte nicht schlafen.

Kasperle atmete auf einmal ganz leise, und der gute Mister Stopps dachte schon: Nun schlafe ich vielleicht ein, da ging es draußen los.

»Tutututut.« – »Kikerikihi, kikerikihi!« – »Tututut.« Kasperle aber richtete sich auf und rief:


»Mußt auf der Reise stets aufstehn,

Wenn morgens früh die Hähne krähn,

Denn wer von der Welt was sehen will,

Der lieg nicht lang im Bette still.

Der mache sich zu früher Zeit

Zum Weiterwandern stets bereit.«


»Die Apfelfrau hat gesagt, das soll ich jeden Morgen sagen«, rief Kasperle dem armen Mister Stopps zu. Und der merkte nun, es war nicht so einfach, mit einem Kasperle zu reisen. »Bleib nur noch liegen«, brummte er.

»Nä«, rief Kasperle, »ich purzelbaume!«

Und hopp-di-hopp ging es aus dem Bett heraus, durch das Zimmer, und plumps, da saß Kasperle Mister Stopps auf dem Magen und schrie, als wäre der gute Herr stocktaub:


»Sag freundlich jedem Guten Morgen,

Wünsch einen Tag ihm ohne Sorgen,

Dann wird dir selbst der Tag zum Fest,

Mit Freundlichkeit kommst durch aufs best –«[60]


»Still!« schrie Mister Stopps, der gar keine Lust hatte, die Reiseregeln der Torburger Apfelfrau anzuhören. »Flink, geh, zieh dich an und bestelle den Kaffee!«

Das tat Kasperle, und im Hause gab es ein großes Verwundern über den Gast, der nach der unruhigen Nacht schon so früh auf den Beinen war.

Doch Kasperle sagte jedem, der es hören wollte, und auch der Köchin, die es nicht hören wollte, sein Sprüchlein:


»Mußt auf der Reise stets aufstehn,

Frühmorgens, wenn die Hähne krähn.«


Und dann schrie es durch das ganze Haus: »Kaffee! Ich in hungrig!«[61]

Quelle:
-, S. 51-62.
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