Im Krug zum grünen Kranze

[62] In dem Gasthof zum Goldenen Knopf erwarteten alle, daß bei Mister Stopps' und Kasperles Abreise etwas passieren würde. Aber nichts geschah. Die Postkutsche hielt vor dem Haus, Mister Stopps und Kasperle stiegen ein, der Postillon blies Traritrara, und fort ging die Reise. Kasperle fiel nicht aus dem Wagen, die Pferde gingen nicht durch, und kein Räuber kam, Kasperle zu befreien. Es verlangte auch gar nicht nach Freiheit. Das Reisen erschien ihm sehr vergnüglich. Es aß, schwatzte, steckte seine große Nase zum Fenster hinaus und lachte jedem ins Gesicht, der des Weges daherkam. Und jeder lachte zurück. Mister Stopps dachte, mit Kasperle sei schon gut reisen. Einmal ließ er auch die Kutsche unterwegs halten, denn Kasperle sagte, es müßte vergnüglich sein, da unter den zwei großen Linden zu sitzen, in die schöne Welt zu schauen und zu singen.

»O yes, singen ist gut. Kannst du singen?«

»Fein«, rief Kasperle, »singen kann ich prachtvoll.«

»Oh, ist mir sehr lieb! Singe!« Kasperle riß seinen Mund auf und sang mit einer Stimme, die wie eine alte Trompete klang:


»Nur nit verzagt!

Bald der Morgen tagt,

Zum guten End

Sich alles wendt.«


»Schrecklich!« rief Mister Stopps entsetzt und hielt sich beide Ohren zu.[62]

»Wunderschön«, sagte Kasperle sehr zufrieden, und noch lauter brüllte es:


»Mußt nit greinen,

Mußt –«


Doch da stockte es, ein feines, feines Klingen hub an, und eine wunderschöne Stimme sang weiter:


»– nit weinen!

Auf Gott vertrau,

Zum Himmel schau!

Halt nur aus, halt nur aus!

Schon nach Haus

Finden ich und du

Einst in guter Ruh.«


O du lieber Himmel, was war das? Da lag auf einmal das sonst so putzvergnügte Kasperle im Grase und schluchzte jammervoll. Aus einem Seitenweg hervor aber trat ein Spielmann, der rief: »Kasperle, bist du auch unterwegs?«[63]

Es war Florizel, der Spielmann, der wieder einmal seine Heimat sehen wollte. Und der Kleine dachte daran, wie Florizel ihn vor Jahren mit dem Kasperlemann nach Torburg gebracht hatte. Ach je, und nun sollte er die schöne Heimat mit allen lieben Menschen darin verlassen? Es war schon schwer! Sein kleines Kasperleherz tat auf einmal wieder bitter weh vor Sehnsucht. Kasperle schluchzte und schluchzte, und Mister Stopps fragte verwirrt: »Sein es denn schon wieder hungrig?«

»Nein, aber der kleine Kerl hat großes Heimweh«, antwortete Florizel.

»Heimueh? Uas sein das?«

»Ein schlimmes, schlimmes Übel.« Und Florizel beschrieb dem langen Engländer, was Heimweh ist. Da riß der seine Augen weit auf und sah höchst nachdenklich drein. »Sterbt er daran?« fragte er.

»Nein, Kasperle stirbt nicht daran. Aber gut muß man zu dem armen Schelm sein, sehr gut, denn er hat überhaupt keine rechte Heimat.«

»O uie sonderbar!«

Kasperle fiel bei dem Wort »Heimat« ein, daß Florizel ihm versprochen hatte, seine schöne Kasperleheimat zu suchen. Es schrie plötzlich laut in des guten Mister Stopps Bedauern hinein: »Hast du meine Insel gefunden?«

»Ach nein, mein gutes Kasperle.«

»Warum denn nicht?«

Florizel tat einen tiefen Seufzer bevor er antwortete: »Weil ich arm bin. Um so weit über Länder und Meere zu fahren, braucht man Geld, und ich bin arm.«

Das klang traurig, und Kasperle kramte rasch aus seiner Hosentasche ein paar Pfennige heraus, das war sein ganzer Reichtum. »Die schenke ich dir«, sagte der kleine Kerl treuherzig,[64] »damit kannst du um die Welt reisen.« Florizel mußte lachen. Mister Stopps sah das Kasperle verwundert an, sah die Tränen in den sonst so unnützen Äuglein, und der reiche Mann, den niemand auf der Welt recht liebhatte, dachte, es müßte schön sein, wenn Kasperle ihm sein kleines Herz schenken würde. Sollte er Kasperle zuliebe dem Florizel auch Geld geben? Er sah auf einmal das stolze Leuchten in den Augen des armen Spielmanns, und da spürte er, daß der eigentlich reicher war als er. Der konnte singen und dichten, war das nicht ein Glück? Sehr höflich bat er, Herr Florizel möchte ihm noch etwas vorsingen. Kasperle bettelte: »Ach ja, ich singe mit.«

»Kasperle, das laß lieber sein! Hör zu, gestern im Walde ist mir ein Lied eingefallen«, sagte Florizel und sang:


»Zieh durch die Wälder weit

In der Maienzeit,

Lieg auf Wiesen grün,

Seh die Wolken ziehn,

Hör die Vögel singen,

Seh die Rehe springen.

Weites Land liegt mir zu Füßen!

Schöne Welt, o laß dich grüßen!

Wer ist noch wie ich so reich?

Einem König bin ich gleich,

Ziehe durch die Weite.

Trallala, trallala!«


Mister Stopps dachte, der ist wirklich ein König, der so singen kann, Kasperle aber schrie: »Mehr, mehr!«

Da hob Florizel den Geigenbogen, setzte an, und nun klang es wie ein sehnsüchtiges Klagen als er sang:[65]


»Ich weiß eine Insel im blauen See,

Denk ich an sie, wird mir so weh.

Insel, du grüne Heimat fern,

Im Traume seh ich dich so gern.

Der Weg dorthin ist weit, so weit,

Ist ferne wie die Ewigkeit,

Drum wandre ich armes Kasperlein

Voll Sehnsucht in die Welt hinein.«


O Florizel, wie kannst du nur Kasperle so ein Lied vorsingen! Da lag es auf einmal in dem Grase, weinte und weinte und war gar nicht zu trösten.

Mister Stopps wurde es himmelangst und er sagte: »Uir uollen ueiterfahren.«

»Nä!« schrie Kasperle.

»Aber Kasperle«, sagte der gute Spielmann freundlich, »du sollst doch in die weite Welt reisen, vielleicht findest du da selbst deine Insel.«

»Komm mit«, bettelte der kleine Kerl.

»O yes, kommen Sie mit«, bat auch Mister Stopps, doch Florizel wollte nicht, und je mehr er den Kopf schüttelte, desto mehr wünschte sich Mister Stopps dessen Begleitung, denn Mister Stopps gehörte zu den Leuten, die gerne das haben wollen, was sie nicht bekommen können.

»Bitte, kommen Sie mit als mein Reisebegleiter. Ich Ihnen gebe viel Geld!«

»Nein«, antwortete Florizel, »ein Sänger und ein Dichter muß frei sein.«

»Kommen Sie mit als mein Gast«, bat der stolze, steife Mister Stopps. Aber wieder sagte Florizel: »Nein.« Da bat Kasperle: »Du bist doch mein guter Freund, komm doch mit!«[66]

»Ja, so ist's recht!« rief Mister Stopps. »Kommen Sie mit als Kasperles Freund.« Da sagte Florizel endlich ja. Er stieg gleich mit in die Postkutsche, und während sie die Landstraße entlang rollten, sang Florizel:


»Vorbei am rauschenden Strom,

Vorüber an Stadt und Dom,

Durch des tiefen Waldes Grün,

In die weite Welt hinziehn!

Heio, heio, heio!«


»Heio, heio!« sang auch Kasperle und steckte seine Nase zum Fenster hinaus. Eben fuhren sie an einer schwerfälligen Reisekutsche vorbei, in der saß ein wunderliebliches Mädchen, das weinte.

»Marlenchen!« schrie Kasperle und winkte und nickte.

Doch es war nicht Marlenchen. Ein fremdes Mädchen war es, das schaute bitter traurig drein, und Kasperle bettelte: »Das soll mit uns fahren.«

»Um Himmels uillen, uer noch?« Mister Stopps erschrak ordentlich, doch da war die Postkutsche schon an dem andern Wagen vorbeigefahren, und das fremde Mädchen winkte zum Abschied mit einem weißen Tüchlein. »Auf Wiedersehen!« schrie Kasperle. »Aus Wiedersehen!«

Und immer weiter rollte die Postkutsche durch das Land. Ein Wirtshaus kam. »Krug zum Grünen Kranze« stand daran. Freundlich und einladend sah es aus. Kein dicker Wirt, sondern eine freundliche Frau Wirtin stand vor dem Tore, die sagte: »Das Mittagessen ist gerade fertig.«

»Ist gut«, rief Mister Stopps, »uir wollen essen.«

»Ja, essen, ich platze vor Hunger«, schrie Kasperle. Es purzelte hinten aus dem Wagen, und Florizel mußte es am Rockzipfel festhalten.[67]

»Wollen die Herrschaften im Garten speisen?« fragte die Frau Wirtin sehr höflich.

»Ja«, rief Kasperle geschwind, ehe noch jemand etwas sagen konnte.

»Ja«, sagte auch Mister Stopps, und die Wirtin dachte, Kasperle sei gewiß ein Prinz, weil alle taten, was es wollte. Sie knickste vor Kasperle und sagte höflich: »Ißt der Herr Prinz auch Pudding?«

O du meine Güte, danach das Kasperle zu fragen! Das lachte über das ganze Gesicht, nickte und rief: »Ja, einen ganzen Pudding, ich hab schrecklich Hunger!«

»Gleich soll der Herr Prinz etwas bekommen.« Die Wirtin rannte in das Haus, und dort rief sie nach Koch und Mägden. Sie ermahnte ihre beiden Buben, recht artig zu sein, draußen wäre ein Prinz. »Gewiß ein Königssohn.«[68]

Heißa! Da liefen Franzl und Hansl flugs hinaus. Einen Prinzen hatten sie noch nie gesehen. Und dann standen sie da und staunten das Kasperle an. Sah der Prinz aber komisch aus!

Kasperle grinste, Franzl und Hansl waren etwa in seiner Größe, und es wußte schon, nach drei Minuten waren die sicher gute Spielkameraden. Also schoß es zur Einleitung flink mal einen Purzelbaum, gerade als drinnen die Frau Wirtin rief: »Flink, Käte, schlag Sahne, ein Prinz muß einen feinen Pudding bekommen!« Da raste der Franzl in die Küche und schrie: »Er schlägt 'n Purzelbaum!«

»Jemine! Ich hab doch gesagt, Sahne soll geschlagen werden.«

Aber Franzl war schon wieder draußen, denn draußen kasperte Kasperle herum, als säße es in einer Jahrmarktsbude.

So etwas hatten die beiden Buben noch nicht gesehen, denn sie gingen in das nahe Dorf zur Schule, in eine Stadt waren sie noch niemals gekommen. Ein Kasperlemann hatte sich im Dorf, solange Hansl und Franzl denken konnten, noch nicht blicken lassen. Sie meinten daher, Kasperles Narrenpossen seien Prinzensitten, und sie staunten Kasperle mit runden Augen an. Das war putzvergnügt, und weil Mister Stopps mit Florizel in einer Laube saß und es sich unbeaufsichtigt wußte, kasperte es so toll, daß alle Hunde, Hühner, Gänse, die Geißen und selbst die dicke alte Katze in Aufregung gerieten. Kasperle bellte, miaute, gackerte und wieherte, und wenn eines der Tiere nahekam, dann schnitt Kasperle seine schlimmsten Gesichter.

Das gab ein Geschrei! Die dicke Miezemutter saß da und fauchte, Karo bellte, und der Geißbock wollte Kasperle auf seine Hörner spießen, aber wutsch kroch Kasperle unter ihm[69] durch und erwischte den Hahn am Schwanz; der Bock meckerte, der Hahn krähte, und Hansl und Franzl kugelten sich vor Lachen auf dem Boden herum. Der Lärm wurde immer größer. Schließlich hörte auch Mister Stopps das Geschrei. Florizel hatte schon lange die Ohren gespitzt, doch der wußte, wo Kasperle war, gab es immer Lärm. Aber auch die Wirtin in der Küche hörte das Toben, sie kam eilfertig herbei, denn ihre gute Sahnenspeise war gerade fertig geworden. »O jegerl, meine Güte, Buben, ihr seid wohl närrisch geworden?« rief sie, und weil das Kasperle just auf der Erde saß, meinte sie, dem Prinzlein sei Unrecht geschehen. Eins, zwei, drei, stellte sie die Buben auf die Beine, und ein ernstes Strafgericht sollte gerade beginnen, als Mister Stopps und Florizel herbeikamen. »Aber Kahspärle«, sagte Mister Stopps würdevoll. »Kasperle, du Schlingel«, drohte Florizel.

»Kasperle?« rief die Wirtin verdutzt. »Wie kann ein Prinz nur Kasperle heißen?«

»Ein Prinz? Ja, ich bin ein Kasperl-Prinz!« Kasperle steckte beide Füße in den Mund, dann drehte und kugelte es sich und lachte zuletzt so, wie eben nur ein Kasperle lachen kann. Und alle mußten mitlachen.

Dem Hansl platzten zwei Hosenknöpflein ab, Mister Stopps zog wieder das himmelblaue Taschentuch hervor, und die Wirtin mußte sich die Seiten halten, so lachte sie; hinter ihr lachten die Mägde, und die Tiere gackerten, meckerten, bellten und miauten durcheinander.

Und gerade da kam eine Kutsche angefahren. Rissel, rassel kam sie an und – fuhr vorbei. Heraus aber schaute das blasse, feine Mädchen, es winkte und nickte, und Kasperle wurde auf einmal ganz ernst. »Wie Marlenchen sieht es aus!«[70]

»Es ist aber nicht Marlenchen, die ist doch blond«, sagte Florizel.

»Jemine, was ist denn? Das Kasperle weint«, klagte die Wirtin plötzlich.

Ja, Kasperle weinte, und es war gut, daß die Frau Wirtin rief: »Nun wird ihm gar meine schöne Sahnenspeise nicht schmecken!« Da hellte sich aber Kasperles Gesicht gleich auf, und nachher gab es ein fröhliches Mahl und einen lustigen Nachmittag, und als am Spätnachmittag die Gäste weiterfahren wollten, da flossen Tränen im Krug zum Grünen Kranze. Mister Stopps sagte aber: »Ich muß ueiter, in der nächsten Stadt wartet Bob auf mich.«

»Ist das auch ein Kasperle?« fragte Florizel.

»Nein, er sein mein Kammerdiener.«

»Oh!« Kasperle riß die Augen weit auf, es dachte daran, wie gut der Diener Heinrich auf Schloß Himmelhoch einst zu ihm gewesen war, und darum rief es vergnügt: »Bob ist fein, ich freue mich auf Bob.« Und Kasperle kletterte vergnügt[71] in die Postkutsche, nahm von allen Abschied, als hätte es zehn Jahre im Krug zum Grünen Kranze gewohnt, und als der Wagen davonrollte, bat es Florizel: »Sing wieder das Abschiedslied!« Da nahm Florizel seine Geige und sang:


»Abschied mag ich nimmermehr,

Abschied nehmen ist zu schwer,

Wünsch beim Auseinandergehn

Lieber: Frohes Wiedersehn!«


Hansl und Franzl weinten ihrem lustigen Freund viele Tränen nach, und wenn sie fortan jemand fragte, was sie werden wollten, antworteten sie allemal: »Ein Kasperle.«

Aber zu einem Kasperle muß man eben geboren sein, sonst kann man es nicht werden![72]

Quelle:
-, S. 62-73.
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