Kasperle will Schlagsahne essen

[112] Es ließ sich gut leben im Wirtshaus zur »Schwarzen Ente«. Schwarz war darin nichts, alles hell und sauber, das Essen gut, die Betten weich, im Garten duftete und blühte es, und vom Walde her kam köstliche Luft.

Die schöne Angela, die schon so viele trübe Tage in ihrem jungen Leben gehabt hatte, dachte auch, es müsse sich gut wohnen in dem uralten gemütlichen Haus. Mister Stopps wollte länger bleiben, aber Florizel, Bob und Kasperle sagten, sie hätten eine so große Sehnsucht nach dem Schweizerland. Die drei Schelme hatten nämlich ein schlechtes Gewissen; sie dachten an Herrn von Löwenzahn, an Angelas Vormund und die Tante. Wenn die ihre Spur fanden, dann konnte es unangenehm werden. Darum nur schnell fort!

»Wenn wir erst in der Schweiz sind, brauchen wir keine Angst mehr zu haben!« meinte Florizel.

Mister Stopps fand die Geschichte zwar merkwürdig, aber er hatte nichts dagegen und so fuhren sie am nächsten Tage in das Schweizerland hinein.

Traratrara! Der Kutscher blies, Kasperle steckte seine große Nase hinaus. Wo waren nur die Schlagsahneberge?

Ja, wo waren sie? Nebel verhüllte alles, und der Nebel wurde zum Regen. Da rauschte ein Wasserfall, und Florizel sagte, das wäre der Rheinfall von Schaffhausen, aber er war gar nicht zu sehen. Dann kamen sie nach Zürich, und es goß auch dort in Strömen. Den Züricher See sah Kasperle erst, als es drinnen lag, und am Fraumünster stieß es sich beinahe seine lange Nase ab.[112]

»Es wird schon aufhören«, tröstete Florizel. Aber es hörte nicht auf. Man fuhr im Regen durch Luzern und überquerte den Brünigpaß. Es regnete lustig weiter. Bald hingen Wäscheleinen vom Himmel, bald regnete es Bindfaden: plitsch-platsch, es regnete, ohne an ein Aufhören zu denken.

Auf dem Brienzer See lag der Nebel wie ein Scheuerlappen, und als man nach Interlaken kam, konnte man meinen, man säße auf einer wüsten Insel. Alles war grau ringsum. Dazu war es kalt, und Mister Stopps klapperte vor Frost. Kasperle klapperte flink mit, der kleine Nichtsnutz tat es aber nur aus Übermut.

»Man muß einheizen«, rief Bob.

»Ja, Feuer«, sagte Mister Stopps, und die zarte Angela, die schon beinahe blau gefroren war, flüsterte: »Ach ja, bitte, Feuer!«

»Morgen wird schönes Wetter, die Wolken teilen sich«, tröstete Florizel.

»Das sagst du jeden Tag«, brummte Kasperle unwirsch, »und ich sehe immer noch nichts von der Schlagsahne.«

»Du kannst noch genug davon essen. Paß auf, morgen steht ein ganzer Berg voll vor deiner Nase.«

Da lachte auch Mister Stopps und warnte: »Iß nur nicht zuviel!«

Kasperle lugte abends zum Fenster hinaus. Es regnete zwar noch immer, aber in der Ferne sah man doch etwas Weißes schimmern. Vielleicht stimmte es doch mit dem Schlagsahneberg. Und dann träumte Kasperle die ganze Nacht davon. Als es aufwachte, schien ihm die blanke Sonne auf die Nase. Kasperle sprang auf und rannte an das Fenster, und da – wahrhaftig, da saß ein großer, großer Schlagsahneberg mitten auf der Wiese, ganz nahe. Kasperle wußte nichts davon, daß im Gebirge bei Föhnwetter alles[113] ganz nah aussieht. Es dachte: Nu aber los! Zu dem Schlagsahneberg ist's nur ein Katzensprung. Und flugs fuhr das Kasperle in die Höschen. Auf einem Tisch im Wohnzimmer sah es eine Schüssel stehen, die nahm es mit. Es dachte: Jetzt hol' ich Schlagsahne zum Frühstück. Und auf und davon lief das Kasperle.

Im Gasthof schliefen noch alle, nur Florizel ging schon draußen über die Wiesen und sang ein Lied:


»Berge im Schnee,

Blaustrahlender See,

Enziane blühn

Auf Matten grün.

Schönes Land,

Schweizerland,

Sei mir gegrüßt!«


Kasperle lief wie der Wind. Aber der schneeweiße Berg rückte nicht näher; er lag weit fort, immer gleich weit.

Da kam dem kleinen Kerl ein Mann in die Quere, und den fragte Kasperle nach dem Weg.

»Wohin willst, Bübli?«

»Zum Berg, Schlagsahne holen.«

»Ah so, guet!« Der Mann verstand zwar nicht, was Kasperle meinte, aber er sah die Schüssel. Am Weg lag eine Käserei, dahin mochte das Bübli laufen! Er zeigte geradeaus, und Kasperle rannte immer weiter.

Lieber Himmel, wie weit war das bis zu dem Schlagsahneberg! Die Sonne brannte, dem Kasperle wurde es heiß, die Schüssel wurde ihm schwer. Es setzte sich am Wegrand nieder und tat einen kellertiefen Seufzer. Sollte es umkehren?[114]

O nein, damit Florizel und Bob es auslachten! Lieber nicht. Aber die Schlagsahne lockte. Also stand Kasperle wieder auf und ging weiter. Ein Wald kam, dahinter schimmerte es weiß, also brauchte das dumme, dumme Kasperle sicher nur durch den Wald zu gehen, dann war es am Ziel. Nach zehn Minuten kam ein Berg, und Kasperle begann zu steigen, und wilder wurde der Wald, steiler der Weg, und auf einmal stand das Kasperle mutterseelenallein in einer tiefen, tiefen Einsamkeit, und über ihm kreiste ein riesiger Vogel. Es war ein Adler![115]

Kasperle erschrak. Es wußte, Adler entführen manchmal Kinder, warum nicht auch einmal ein Kasperle?

Vor Schreck ließ es die Schüssel fallen und rannte heimwärts. Ja, wenn es nur den rechten Weg gewußt hätte. Kasperle überlegte: Jetzt muß das Wirtshaus und der Ort, der Interlaken heißt, bald kommen. Aber immer einsamer, immer stiller wurde es ringsum. Zuletzt gab es keinen Weg mehr, kein Mensch antwortete auf Kasperles Klagen und Rufen, nur der Adler zog über ihm seine Kreise.

Inzwischen war Mister Stopps aufgewacht. Er rief nach Bob und Kasperle. Bob kam, Kasperle aber nicht.

»So ein Faulpelz, der schläft noch! Na, ich werde ihn wecken«, sagte Bob. Er ging an Kasperles Bett und rief: »Aufstehen, du kleiner Faulpelz!« Dann nahm er die Decke weg, und – da lag kein Kasperle mehr im Bett.

Es wird unten bei Florizel sein, dachte Bob.

Gerade da kam Florizel ins Zimmer, seine Augen glänzten, auf seinen Lippen lag noch ein Lied, er trällerte:


»Angela, du schönste Maid,

wach auf, wach auf, 's ist höchste Zeit.«


»Wo ist Kasperle?« fragte Bob.

»Ach, Kasperle liegt gewiß noch im Bett«, antwortete Florizel.

»Das tut es eben nicht.«

»Dann ist es bei Angela.«

»Bei Tom!«

»Meinetwegen nenne du Angela Tom«, rief Florizel und ging, um Angela zu fragen. Doch die wußte nichts von Kasperle, und niemand im Hause wußte etwas von ihm.

»Mein Kasperle ist ausgerückt«, schrie Mister Stopps.[116]

»Nein, das ist es nicht. Ausreißen tut es nicht mehr, aber eine Dummheit hat es vielleicht gemacht. Man muß es suchen«, meinte Florizel.

Alle liefen auf die Straße, selbst die schöne Angela, und dort traf sie den Mann, der Kasperle hatte laufen sehen. Der Mann wußte gleich Bescheid, als Angela den Kleinen beschrieb. Der habe was holen wollen, was Komisches – Schlagsahne.

Der Mann lachte über das Wort, aber Angela lachte nicht. Sie ahnte plötzlich, wohin Kasperle gelaufen war. Der Kleine hatte den Scherz mit der Schlagsahne für Ernst genommen.

»Oh, du dummes, dummes Kasperle!«

Mister Stopps, Florizel und Bob, alle drei riefen auch: »Ist das Kasperle aber dumm!« Aber dann dachten sie doch, ja, dumm ist das Kasperle, aber fort ist es auch. Man muß es suchen.

Alle vier gingen sie zusammen weg. Erst dachten sie: Na, wir finden es bald! Aber dann wurde es immer stiller und einsamer. Sie konnten rufen, soviel sie wollten, das Kasperle war nicht zu finden, und niemand hatte es gesehen. Die Sonne stand schon hoch, da kehrten die vier um, denn der Spielmann sagte: »Vielleicht ist es inzwischen wieder im Gasthaus. So weit wird es nicht sein.«

Aber Kasperle war noch nicht zurückgekommen.

Nun wuchs die Angst. Florizel und Bob beschlossen, das Kasperle nochmals zu suchen. Ein wegkundiger Führer begleitete die beiden, und der Bauer, der Kasperle den Weg gewiesen hatte, ging auch mit.

Kaum waren die vier zum Ort hinaus, da fuhr, rissel-rassel, eine große Reisekutsche vor, und Angela sah zu ihrem Entsetzen ihren Vormund, die Tante und Herrn von[117] Löwenzahn darin sitzen. Sie erwischte gerade noch einen Kellner am Jackenzipfel, und bat ihn, er möchte Mister Plumpudding nicht stören.

»Wer ist denn das?«

»Na, der Herr auf Nummer zehn, und ich bin sein Diener Tom.«

»Ich denke, Mister Plumpudding heißt Mister Stopps«, stotterte der Kellner verdutzt.

»Aber Mister Stopps ist doch eben in die Berge gegangen, das Kasperle zu suchen«, rief Angela. Sie zitterte dabei wie Espenlaub, und der Kellner fragte: »Warum zitterst du so?«

»Weil ich erkältet bin und mich ins Bett legen muß!« Husch, weg war Angela. Der Kellner aber ging hinab, wo ihn Herr von Löwenzahn fragte: »Ist ein Mister Stopps bei Ihnen abgestiegen?«

»Nein, nur ein Mister Plumpudding. Mister Stopps war hier, der sucht jetzt das Kasperle.«

»So, wo sucht er es denn?«

»Kasperle ist auf die Jungfrau geklettert.« Das hatten die Reisenden noch nie gehört, daß man diesen Berg besteigen könne, und Herr von Löwenzahn rief gleich: »Ich will auch hinauf.«

»Aber erst wollen wir uns ausruhen.« Die Tante sah sich um. »Plumpudding? Den Namen habe ich noch nie gehört. Hat er Dienerschaft bei sich, vielleicht auch eine Nichte?«

»Oh, der hat nur Tom bei sich.«

»So? Und Bob? Mister Stopps Diener?«

»Bob ist mit auf die Jungfrau gestiegen!«

»Du siehst, Liebe«, brummte der Onkel, »sie sind alle weg, wir können uns ausruhen.« Da alle sehr müde waren,[118] legten sie sich in ihre Betten und schliefen bis zum späten Nachmittag.

Angela aber saß noch lange zitternd in ihrem Zimmer, bis sie endlich wagte, leise das Haus zu verlassen. –

Florizel und Bob mußten weit, weit wandern, fanden aber das Kasperle nirgends. Und wie sie so bergauf gingen, kamen sie an eine Almhütte, vor der Ziegen und Kühe herumliefen. Die Sonne wollte gerade untergehen, und die weißen Schneeberge glühten rosenrot, deshalb setzte sich Florizel auf eine Bank vor der Hütte und sagte: »Hier muß ich einmal ausruhen. Wo steckt nur das vermaledeite Kasperle?«

In diesem Augenblick trat eine Sennerin aus der Hütte, die lachte über das ganze Gesicht und rief immerzu: »Ich muß mich totlachen!«

»Warum denn, gute Frau?«

»Ach«, sagte die Sennerin, »mein Mann hat heute ein Bergwichtlein gefangen, grad als es ein Adler davontragen wollte, das macht so drollige Späße.«

»Das ist unser Kasperle«, schrien Florizel und Bob.

Es war auch Kasperle, das in der Almhütte auf einem Butterfaß saß und den Sennen etwas vorkasperte, daß diese aus dem Staunen nicht mehr herauskamen.

»Oh, Kasperle!«

»Florizel, Bob!«

Bums! – Da lag das Kasperle samt dem Butterfaß auf dem Boden. Dort erst merkte es, daß es angebunden war.

Die Sennen wollten es auch nicht erlauben, daß Kasperle losgebunden würde. So ein Wichtlein brächte Glück, sie wollten es behalten, sagten sie.

Das gab ein langes Verhandeln. Vergebens erzählte der Bauer und der Führer, wer Kasperle sei, die Sennen wollten[119] es nicht hergeben. Und da es sechs waren, dachten Florizel und Bob schon, sie müßten wirklich ohne Kasperle abziehen. Doch da fing dieses auf einmal sein allerschaurigstes Räubergebrüll an und schnitt dazu die fürchterlichsten Gesichter. Mal sah es aus wie ein Räuber, dann wie ein Teufel oder wie die unwirsche Köchin im »Goldenen Knopf«.

Die Almleute erschraken. Dazu drohte ihnen Kasperle noch mit grimmigster Miene, und die Sennerin sagte flink: »Nein, so einen Unhold wollen wir nicht in unserem Hüttli haben. Hinaus mit ihm! Hätte ihn nur der Adler geholt.« Sie schnitt rasch den Strick durch, und hops! saß Kasperle auf Florizels Rücken. Dort oben drehte es sich flink noch einmal um und machte ein lustiges Schelmengesicht.

»Es soll hierbleiben! Ihr seht doch, es ist nicht bösartig.«

»Es soll bleiben«, riefen alle, aber Bob und Florizel rannten mit ihrem Kasperle davon, so schnell sie konnten.

»Kasperle, du heilloser Wicht, mach schnell dein schlimmstes Gesicht!« keuchte Florizel, der an dem kleinen Kerl schwer zu tragen hatte.

»Huch«, schrie Kasperle und sah gleich wie die Prinzessin Gundolfine aus. Ein schlimmeres Gesicht konnte es nicht machen. Es war auch wirklich schlimm genug. Die Sennen purzelten vor Schreck fast den Berg wieder hinauf. Wehklagend rannten sie davon, und Kasperle lachte und lachte, bis Bob sagte: »Kasperle, sei still, sonst platzt dir noch das Bäuchlein.«

»Das kann's gar nicht«, schrie Kasperle kläglich. »Es ist nichts drin.«

»Ich dachte, du bist von der vielen Schlagsahne satt«, sagte der Spielmann neckend und setzte den Kleinen ab.

Aber da wurde Kasperle fuchsteufelswild. Es wußte nun schon, daß die Sahne Schnee, ewiger Schnee war, und vor[120] Wut und Ärger fing es jämmerlich zu heulen an. Es klagte so lange, seine Füße täten ihm weh, bis Bob es auf den Arm nahm, es sacht tröstete und sagte: »Wenn wir heimkommen, bekommst du Schlagsahne und darfst so lange schlafen wie du willst.«

Es kam aber alles anders, als Bob versprochen hatte. Als sie nämlich spät heimkamen, kauerte Angela in der Nähe des Wirtshauses und flüsterte zitternd: »Sie sind da!«

»Wer denn? Die Sennleute?« schrie Kasperle.

»Halt den Mund, Kasperle«, sagte Florizel, »jetzt müssen wir es klug anfangen, damit der Vormund die arme Angela nicht erwischt.«

»Klug«, sagte Kasperle, aber dabei rutschte ihm sein Stimmlein aus, und es gellte laut durch das Haus: »Klug.«

»Himmel, mir war es gerade, als habe jemand geschrien«, sagte die Tante, aber glücklicherweise hatte Bärbe nichts gehört, drum schlief die Tante wieder ein. Auch Herr von Löwenzahn schlief, und der Vormund schnarchte so laut, daß niemand etwas hören konnte.[121]

Quelle:
-, S. 112-122.
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