Eine lustige Fahrt

[104] Sonnenschein, Maienglanz, blühende Blumen, Vogelgesang – wie war es schön, so am hellen Morgen in die weite Gotteswelt hineinzufahren!

Kasperles kleines Herz hüpfte vor Freude. Bei Mondenschein waren sie aus der Stadt hinausgefahren, dann kamen sie durch den dunklen, schlafenden Wald. Da hatten die Quellen leise gesungen, und das Mondlicht war an den dicken Baumstämmen niedergerieselt. Dazu kam ein feines, sachtes Rauschen. Schön war es gewesen, wunderschön. Aber nun schien die Sonne. Ein Tag voll Lieblichkeit war heraufgezogen, und das kleine Kasperle baumelte vor Vergnügen mit seinen Beinchen. Es saß in dem Wagen Mister Stopps gegenüber. Florizel hatte sich vorn auf den Bock gesetzt, Bob auf dem Bedientensitz hinten am Wagen.

Mister Stopps nickte zufrieden vor sich hin, und das Kasperle, das etwas auf dem Herzen hatte, dachte: Nun sag' ich es! und nickte auch. Da fragte Mister Stopps, gerade als Kasperle seinen Mund auftun wollte: »Kahspärle, uie ist das? Mal sitzt Bob vorne, mal sitzt Bob hinten. Uie kann ein Mensch vorne und hinten zu gleicher Zeit sitzen?«

Kasperle wurde feuerrot: »Das ist Bobs Bruder, der vorne sitzt«, stotterte es.

»Uie komisch! Uie kann Bob einen Bruder haben, uenn er doch ein Uaisenkind ist und nie einen Bruder gehabt hat?«

Kasperle dachte: Wie komme ich nur darum herum, Mister Stopps die Wahrheit zu sagen. Aber schon sah Mister[104] Stopps es mit einem strafenden Blick an: »Kahs–pärle, du tust lügen.«

Kasperle suchte seine Nase. Es half nichts, es mußte bekennen. Da ließ draußen Florizel ein heiteres Lied erschallen:


»Schönes Fräulein,

Sagt mir an,

Warum den Herrn von Löwenzahn

Ihr gar nicht wolltet frein.«


Und eine silberhelle Stimme antwortete:


»O Florizel,

lieber Spielmann mein,

Ich will ihn nicht,

Ich mag ihn nicht,

Er ist ein aufgeblasener Wicht.«


»Das ist er!« schrie Kasperle in der Kutsche.

»Uer, Kahs–pärle?«

»Der Herr von Löwenmaulzahn. Und Angela ist Bobs Bruder, nein, sie ist es eigentlich nicht, und sie saß im Gartenhaus, und nun sitzt der Herr von Löwenmaulzahn drin, und – und – und –«

Kasperle wußte nicht weiter, und Mister Stopps wußte erst recht nicht weiter, denn die Namen, die Kasperle genannt hatte, waren ihm ganz unbekannt.

»Bob soll es sagen!« riefen Mister Stopps und Kasperle zu gleicher Zeit.

Und als die Kutsche hielt, kam Bob an die Wagentür, und Mister Stopps sagte streng: »Bob, jetzt stehst du hier am Uagen und bist auch auf dem Bock, uie ist das möglich?«[105] Da erzählte Bob, wie sie die schöne Angela gerettet hatten, und Mister Stopps rief: »Umkehren, das geht nicht!«

Wie gut war es nun, daß Kasperle so unbändig heulen konnte! Heiliger Bimbam, schrie der kleine Wicht! Vom Bock herunter kam Florizel, um zu sehen, was es im Wagen gäbe. Mister Stopps erschrak gewaltig, er versuchte Kasperle zu trösten, aber das war schlau, es tat ganz jämmerlich unglücklich. Je aufgeregter Mister Stopps wurde, desto mehr heulte das Kasperle. Es riß seinen Mund ganz ungeheuer auf und schluchzte, als wäre ihm selbst das tiefste Herzeleid widerfahren.

Als Mister Stopps, dem es immer ängstlicher zumute wurde, einmal sagte: »Uir müssen in die Stadt zurückkehren«, schrie Kasperle: »Ich stirbse, ich stirbse!« und klapp fiel es um und verdrehte die Augen. Florizel beugte sich über den Schlingel und flüsterte: »Jetzt müßtest du etwas hintendrauf haben.«

Der Florizel war doch ein guter Arzt. Kasperle starb nicht, sondern war auf einmal wieder ganz munter und bat zärtlich: »Bitte, bitte, nicht umkehren, lieber Mister Stopps!«

»Aber das fremde Fräulein?« fragte Mister Stopps.

»Das ist doch kein Fräulein mehr, es ist Bobs Bruder geworden, und Bobs Bruder heißt Tom und kann mitfahren.« Kasperle fand die Geschichte äußerst einfach. Mister Stopps fand sie weniger einfach, aber was sollte er mitten auf der Landstraße tun? Er sagte also: »Meinetwegen!« Und dann hielt er sich die Ohren zu und rief: »Uill nichts mehr hören. Kahspärle haben mich die Ohren entzuei geschreit – geschrieht – geschreiten.«

»Hahaha!« Kasperle tat wieder seinen Mund auf, aber diesmal um zu lachen, und Mister Stopps, Florizel, Bob und Angela und der Kutscher, alle lachten mit. Heio, das war[106] eine lustige Fahrt. Immer glänzender wurde der Himmel, immer strahlender die Sonne. Ein köstlicher Mittagsfriede lag über dem weiten Lande.

Sie schmausten im Wagen, und Angela, genannt Tom, schmauste fröhlich mit. Dann setzte sie sich neben Florizel auf das Dienerbänklein hinten am Wagen, Bob nahm neben dem Kutscher Platz, und weiter ging die Fahrt. »Bis zur Schwarzen Ente«, sagte der Kutscher. »Das ist ein feines Wirtshaus.«

Florizel spielte ganz, ganz leise auf seiner Geige, und Angela erzählte ihm. Ein Waisenkind war sie, und ihr Vormund war sehr geizig. In Italien lebte ihre gute alte Großmutter, aber zu der wollte der Vormund sie nicht reisen lassen, obgleich Angela die gute alte Frau von Herzen liebte. »Wenn ich erst dort bin, bin ich geborgen«, erzählte Angela weiter. »Die Großmutter ist –«

»Herzensgut«, sagte jemand von oben herab, und das war Kasperle. Weil Mister Stopps schlief, war es dem Kasperle[107] zu langweilig geworden. Es war aus dem Fenster geklettert und schaute nun vom Verdeck des Wagens auf die beiden herab.

»Ja, herzensgut. O Kasperle, liebes, kleines Kasperle«, sagte Angela, »ich habe schon so viel von dir gehört, denn ich war eine Zeitlang bei der Prinzessin Gundolfine –«

»Brrrrr!« Kasperle schüttelte sich so, daß Florizel fragte: »Wird dir übel?«

Da schrie Kasperle: »Hach, ich weiß jetzt, wer die Heirat mit Herrn von Löwenzahn ausgeheckt hat.«

»Die Prinzessin!« rief Angela.

Kasperle machte ein bitterböses Räubergesicht und dann –

»Die Prinzessin!« Angela purzelte beinahe vom Wagen. Auf einmal sah nämlich das Kasperle wie die Prinzessin aus und gleich darauf wie Herr von Löwenzahn, und da gab es ein fröhliches Gelächter, und Bob, der es hörte, kletterte auch auf das Kutschenverdeck, legte sich neben Kasperle, und beide schwatzten von oben herunter mit Florizel und Angela.

Und weiter ging die Fahrt, immer weiter, vorbei an kleinen Dörfern, die malerisch unter Bäumen zwischen Wiesen und Feldern lagen. Einmal kam ein Städtchen. Da rollte und rumpelte der Wagen über ein holpriges Pflaster. Kinder, Erwachsene, Hunde, Katzen, alles lief herbei, denn Kasperle schnitt die unglaublichsten Fratzen. Lautes Lachen umtoste die Kutsche, in der Mister Stopps behaglich schlief. Der Kutscher lachte, ja, ja, mit einem Kasperle fuhr es sich schon lustig in der Welt herum.

»Was ist das für ein kleiner Wicht?« fragte ein Polizist ernsthaft. Wutsch, da machte ihm Kasperle sein Polizeigesicht nach, und der Mann rief verdutzt: »Der sieht beinahe aus wie ich, komisch!«[108]

»Hier bleiben!« riefen die Kinder.

Und die Wirtin vom Schwanen knickste tief und rief freundlich: »Wollen Sie nicht bei mir einkehren?«

Aber der Kutscher sagte: »'ne ›Schwarze Ente‹ ist mir lieber als ein nicht ganz weißer Schwan, und wir sind auch sowieso bald an der Grenze.«

»An was für einer Grenze?« fragte Kasperle.

»An der Schweizer Grenze.«

»Uo sein die Schweiz? Sein uir da?« Mister Stopps war aufgewacht und schaute sich erstaunt um. Da kletterte Kasperle zum großen Vergnügen der Reisegesellschaft wieder über das Verdeck in den Wagen zurück und setzte sich Mister Stopps gegenüber.

»Was ist die Schweiz?« fragte Kasperle.

»Ein Land.«

»Wegzoll!« schrie jemand, und Bob warf dem Zöllner von oben herab ein Geldstück zu.

»Halt!« schrie der, »wieviel Personen passieren denn?«

»Fünf und ein Kasperle.« Bums, fiel der Schlagbaum herunter. »Verspotten lasse ich mich nicht«, brummte der Zöllner. »Was ist ein Kasperle?«

»Das bin ich.« Kasperle schoß einen Purzelbaum aus dem Wagen heraus, und der Zollwärter rief: »Potztausend, das ist wirklich ein Kasperle.«

Mister Stopps zeigte ihm nun seine Quittung aus Torburg, daß er Kasperle für sehr viel Geld gekauft hätte.

Da machte der Mann große Augen und schrieb alles genau in ein Buch hinein. Als Mister Stopps seinen Namen und Geburtstag genannt hatte und gerade Bob nennen wollte, schrie Kasperle: »Und das sind Bob und Tom, zwei Brüder, und das ist Florizel, der kann besser singen als die Nachtigall des Kaisers von China.«[109]

»Gut, gut!« lachte der Zollwächter, er sah sich nur noch Florizel an, dann konnte der Wagen weiterfahren, und weiter ging es, immer weiter.

Wieder Wiesen, Felder, Wald, ein Dorf, und dann kam die »Schwarze Ente«, und da rief der Kutscher: »Brr! Hier wird Halt gemacht und morgen geht es in die Schweiz hinein, da sind alle Berge mit Zucker bestreut.«

»Stimmt nicht!« rief Kasperle und kletterte wieder in den Wagen hinein und fragte drinnen Mister Stopps: »Ist das wahr?«

»Uas denn?«

Daß in der Schweiz die Berge mit Zucker bestreut sind.«

Der steife Mister Stopps machte selten einen Scherz, und wenn er einmal einen machte, dann tat er es mit einem ganz ernsten Gesicht, und jeder dachte, es sei wirklich so.

Darum glaubte es ihm das arme dumme Kasperle auch, als er sagte, die Berge seien nicht mit Zucker, sondern mit[110] Sahne überstrichen. »Schlagsahne?« schrie Kasperle, denn das war seine Lieblingsspeise.

»Kann man die auch essen?«

»Gewiß«, antwortete Florizel.

»Dann esse ich in der Schweiz immerzu Schlagsahne. Kann man sie auch nur so schlecken, ohne Löffel?«

Mister Stopps wollte sagen: »Es war nur Spaß«, als der Kutscher nochmals rief: »Brrr, halt, hier ist die ›Schwarze Ente‹, hier ist gut sein.«[111]

Quelle:
-, S. 104-112.
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