Der »Prinz von England«

[95] Mister Stopps schlief fest. Auf dem Vorplatz aber standen der Bürgermeister, die Stadträte und einige vornehme Bürger, die alle den Prinzen sehen wollten. Florizel, Kasperle und Bob waren inzwischen durch eine Seitentür in Kasperles Zimmer gelangt, und Bob öffnete jetzt mit dem ernstesten Gesicht von der Welt die Türe und flüsterte: »Der Prinz schläft, niemand kann ihn sehen.«

»Oh, das ist aber schade«, riefen einige Herren. »Wann will er denn weiterfahren?«

»Heute abend«, sagte Bob flink, der dachte, sonst kommen sie alle morgen wieder angerannt.

»Wir wollen ihm Blumen überreichen«, flüsterte ein reicher Kaufmann.

»Das ist schön«, sagte Bob. »Sie haben so ein nettes Gesicht, Sie dürfen den Prinzen sehen, wie er schläft.«

»Oh, tausend Dank, Herr Oberhofmeister.« Der Kaufmann war schrecklich eingebildet, er tänzelte in das Zimmer hinein. Damit auch alle sehen konnten, daß er zu dem Prinzen hinein durfte, blieb er sogar noch ein Weilchen in der Türe stehen.

»Der Herr Binder wird bevorzugt«, murmelten die andern draußen, und der Stadtrat Knackermann drängte sich auch vor, denn er wollte unbedingt auch den Prinzen sehen.

»Meinetwegen«, brummte Bob.

Die andern nahmen es gewaltig übel, daß die beiden so bevorzugt wurden. Sie drängelten nach, und auf einmal standen sie alle im Zimmer.[95]

Kasperle lag im Bett, tat, als ob es schliefe, und machte dazu ein Gesicht wie Mister Stopps. Neben ihm stand Florizel.

»Na, schön ist er aber nicht«, brummte Stadtrat Wichtelmeyer. »Doch, er ist schön, er sieht so geistreich aus.«

»Nicht so nahe!« Florizel machte ein sehr ernstes Gesicht und dachte, wenn sie zu nahe kommen, merken sie am Ende, was für ein Wichtlein im Bett liegt.

Niemand aber merkte es, nur der Stadtrat Knackermann sah etwas höchst Seltsames. Als er sich beim Hinausgehen umdrehte, um den schönen Prinzen noch einmal zu sehen, fiel er gleich vor Schreck zur Tür hinaus.

»Aber, Herr Stadtrat, was haben Sie denn? Sie sehen ja käseweiß aus!« rief der Bürgermeister.

Der arme Stadtrat brachte vor Entsetzen kein Wort heraus. Erst unten auf der Straße stöhnte er: »Der Prinz ist etwas – hm – sonderbar.«

»Dafür ist's ein Prinz«, meinte Stadtrat Wichtelmeyer.

»Aber – aber – er hat eine lange Nase gemacht.«

»Eine lange Nase?« Die andern sahen den guten Stadtrat an, als wäre er vom Mond gefallen, und der Bürgermeister riet ihm endlich: »Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich ins Bett. Sie haben Fieber, Sie bekommen einen Schnupfen.«

Das meinten die andern auch. Wie konnte ein Prinz von England eine lange Nase schneiden! Das war doch unmöglich.

Im Bett aber lag ein vergnügtes und lachendes Kasperle. Oh, es wußte schon, woher die lange Nase kam.

Bob lachte auch, nur Florizel sagte: »Seid nicht zu übermütig! Denkt daran, wir müssen noch das schöne Fräulein Angela befreien.«[96]

»Hier habe ich einen Anzug von mir, der mir zu klein ist. Den kann das Fräulein anziehen.« Bob legte einen weißen Matrosenanzug zurecht.

»Ich helfe beim Befreien!« schrie Kasperle.

»Du nicht, du machst doch nur Dummheiten.«

»Ich mach keine, ich mach nie welche!«

»O Kasperle, du kleiner Schwindelpeter!«

»Nä, nur manchmal.«

»Manchmal? Oft!« Florizel, der Spielmann, stritt sich noch eine Weile mit Kasperle herum, bis er schließlich nachgab und sagte, Kasperle dürfe helfen, die schöne Angela zu befreien.

Ach, und wie eifrig war Kasperle dabei. Es plumpste durch den Schornstein in das Gartenhaus hinein, und mit seiner Hilfe gelang es Angela, auf dem Dach eine Luke zu öffnen, und als sie beide gerade durchkriechen wollten, warnte Florizel: »Pst, es kommt jemand!«

Es war der Herr von Löwenzahn. Er hielt den Schlüssel in der Hand und flüsterte: »Angela, mein holdes Kind, ich komme, dich zu befreien.«

»Du kommst genau zur unrechten Zeit«, brummte Bob.

»Laß nur, Kasperle wird schon helfen«, flüsterte Florizel.

Und Kasperle half. Herr von Löwenzahn bückte sich gerade und schloß auf, als ihm etwas über den Kopf fiel. »Aber Angela, holdes Mädchen«, flüsterte er, »was ist denn das?«

Ein Sack hing ihm über dem Kopf, und ehe er recht wußte, was geschehen war, und ehe er den Sack vom Kopfe entfernen konnte, erhielt er von jemand einen kräftigen Tritt. Kopfüber stolperte er in das Gartenhaus, und dort saß der Herr von Löwenzahn, während die schöne Angela über die Mauer gehoben wurde.[97]

Im Gartenhaus war es dunkel und wirklich nicht schön, und es verging eine lange Zeit, ehe sich der Herr von Löwenzahn darin zurechtfand und endlich oben die offene Luke entdeckte. Er steckte seinen Kopf hinaus und schrie aus Leibeskräften: »Hilfe, Hilfe!«

Im kleinen gelben Haus sagte die Tante: »Im Garten schreit jemand. Himmel, sie werden doch nicht Angela rauben.«

»Unsinn«, brummte der Onkel Griesgram.

Weil aber das Geschrei nicht aufhören wollte, stand er doch endlich auf, rief seinen Diener herbei und ging mit ihm und der Tante zum Gartenhaus.

Herr von Löwenzahn schaute zur Luke heraus. Sein Gesicht war ganz schwarz, weil in dem Sack einmal Kohlen gewesen waren. Deshalb hielt ihn die Tante für einen Räuber. Sie schrie laut auf, der Onkel Griesgram rannte davon, der Diener, nicht faul, hinterdrein.

Alle dachten, die Räuber wären im Gartenhaus und hätten das Fräulein Angela überfallen.

»Und gewiß haben sie den guten Löwenzahn getötet«, jammerte die Tante.

»Man hole die Polizei!« schrie der Onkel.

»Polizei, Polizei!« rief jemand aus dem Ofenwinkel, dort klapperte der Diener vor Angst mit den Zähnen.

»Polizei! Polizei!« schrien alle durcheinander.

Endlich kam die Magd Bärbe und brummte: »Hier schreien sie, statt auf die Polizei zu laufen.« Sie ging dann selbst, und unterwegs fuhr ihr der Wagen, in dem Mister Stopps saß, an der Nase vorbei. Und Bärbe blieb stehen und sah sich alles recht genau an, denn einen Prinzen von England bekommt man nicht alle Tage zu sehen.

Darüber verging die Zeit, und es dauerte lange, bis ein[98] paar Polizisten zu dem Oheim Griesgram in das Haus kamen. Der Herr von Löwenzahn hatte sich schon ganz heiser gebrüllt, und vor Schreck und Angst war er so elend, daß er nur noch »Schnapp« sagen konnte, mehr nicht.

»Da ist der Räuber!« – »Haltet ihn fest!« Die Tante und die Magd quiekten, der Oheim brüllte, der Diener und die Polizisten fingen an, Herrn von Löwenzahn durchzuprügeln, und der Wachtmeister befahl streng: »Bindet ihn, er kommt ins Gefängnis. Dem geht es schlecht.«

Na, schlecht erging es Herrn von Löwenzahn schon jetzt, denn kaum tat er seinen Mund auf, da schlug ihm einer drauf. Dann kam der Diener und stülpte ihm wieder den Sack über das Gesicht, und darum dauerte es auch so lange,[99] bis die andern merkten, wer eigentlich der Räuber war. Da war freilich das Entsetzen und Erstaunen sehr groß. Die Tante fiel in Ohnmacht, und der Diener nahm sie und trug sie geschwind an das Haus und hielt sie dort unter die Pumpe. Davon wurde die Tante wieder munter, aber sie schalt wie eine ganze Spatzenfamilie, und der Herr von Löwenzahn konnte wieder nicht erzählen.

Endlich, endlich kam er zu Wort. Da riefen gleich alle: »Das ist Florizel gewesen, der hat sie wieder ansingen wollen. Wir müssen hinüber in den ›Mondschein‹ laufen und nachsehen, ob Angela dort ist.«

»Ich geh hin!« rief der Diener. Die Tante lief auch mit, die Magd Bärbe lief mit, und der Herr von Löwenzahn humpelte hinterdrein.

Zur Mitternachtsstunde langten sie vor dem »Mondschein« an. Der lag nun wirklich im Mondschein. Alle Fenster waren dunkel. Wirt, Kellner, Mägde, Hausknechte, alle schliefen friedlich nach mühsamer Tagesarbeit, und keiner hatte es eilig mit dem Aufstehen. Endlich kam der Hausknecht und fragte, was los sei. »Wir wollen den englischen Prinzen sprechen.« Herr von Löwenzahn plusterte sich auf wie ein Gockel. »Aber flink, es eilt!«

»Ach meinetwegen kann's eilen, bei uns wohnt aber kein englischer Prinz mehr.«

»Aber Johann, besinn dich doch, heute ist doch ein englischer Prinz angekommen.«

»Ist nicht! Hier war nur ein Mister Stopps, und der ist schon wieder weg.«

»Kein englischer Prinz?« Herr von Löwenzahn fiel vorsichtshalber nicht in Ohnmacht, er dachte, sonst komme er auch unter die Pumpe.

»Kein englischer Prinz?« riefen alle.[100]

»Nä, aber 'n sehr reicher Herr mit 'nem merkwürdigen Wesen, 'nem richtigen Kasperle«, brummte Johann. »Vor zwei Stunden sind sie alle plötzlich weg.«

»Mit einem jungen Fräulein?« fragte die Tante.

»Nä, ohne Fräulein.«

»Das ist eine Lüge!« sagte Herr von Löwenzahn zornig.

Aber da kam er bei Johann schlecht an. »Ich lüge nicht!« brummte der, und bums! schlug er die Haustüre zu.

Da mußten die draußen wieder klopfen und rufen, und Johann machte erst auf, als der Wachtmeister rief: »Im Namen des Gesetzes, aufgemacht!« Da machte der »Mondschein« seine Tür wieder auf, und jetzt kam der Wirt und erzählte auch, Mister Stopps sei eben Mister Stopps und kein englischer Prinz gewesen, und abgereist wäre er, weil er nicht für einen englischen Prinzen gehalten werden wollte.

»Und das Fräulein, das Fräulein Angela«, rief Herr von Löwenzahn aufgeregt, »wo ist meine liebe Braut?«

»Im Fremdenbuch steht sie nicht«, brummte der Wirt und machte ein schalkhaftes Gesicht.

O arme, schöne Angela! Beinahe wäre alles gut gewesen, wenn nicht ein Stubenmädchen gesehen hätte, wie Angela heimlich in das Hotel geführt wurde. Das Mädchen verriet nun alles.

»Ha«, schrie der alte Diener, »ich hab die Postkutsche nach Osten fahren sehen, die Gründorfer Straße entlang ging die Fahrt.« Der gute Alte dachte: Nun führ' ich sie auf eine falsche Fährte. Der Florizel paßt viel besser zu Fräulein Angela als der dicke Löwenzahn.

Aber da war Bärbe, und Bärbe hatte die Kutsche die Delsheimer Straße entlang fahren sehen; denn jetzt fuhr Mister Stopps in seinem eigenen Wagen, und der Wirt meinte, das könne schon stimmen.[101]

»Auf, auf! Der entführten Angela nach!« schrie Herr von Löwenzahn. »Schnell eine Extrapost, damit wir sie noch einholen!«

»Eine Extrapost! Ich fahre mit«, rief die Tante.

»Ich auch«, brummte der Oheim.

»Nein, ich fahre allein«, erklärte Herr von Löwenzahn, »eine Verfolgung muß man schlau anfangen.«

»Dann fahre ich auch allein«, erklärte der Onkel, »ich nehme nur den Peter mit.«

»Und ich die Bärbe«, sagte die Tante rasch entschlossen, »fahren werde ich auch.«

»Nehmen Sie mich mit, gnädiger Herr von Löwenzahn«, bat der Diener, »ich kenne Fräulein Angela unter jeder Verkleidung heraus.« Der gute Alte dachte: Wenn er mich mitnimmt, dann wollen wir schon an Fräulein Angela vorbeifahren.

Aber Herr von Löwenzahn dachte an die Schläge auf den Mund und an den Kohlensack. Er sagte nein, und die Tante sagte auch nein, denn sie dachte an die Pumpe.

Der alte Diener seufzte, aber er mußte gehen und geschwind die Extrapost bestellen. Und als er ging, brummte er: »Klug willst du sein, Herr von Löwenzahn, aber dumm bist du doch. Fräulein Angela wird dich doch nicht heiraten.«

Als es Morgen wurde, hielt endlich eine Extrapost vor dem gelben Hause, nur eine, denn zuletzt hatte selbst Herr von Löwenzahn gefunden, mehrere Wagen wären zu teuer. In den Wagen setzten sich der Onkel Griesgram, Herr von Löwenzahn, die Tante und Bärbe, auf den Bock zwei Postillone. Der eine war der alte Diener, als Postillon verkleidet, und los ging die Reise.

Der Diener hat uns nicht mal Lebewohl gesagt, na, das[102] soll er mir aber büßen!« sagte die Tante, als der Wagen zur Stadt hinausrollte.

»Es war schlau von mir, ihn nicht mitzunehmen.« Herr von Löwenzahn lächelte stolz, und der Oheim brummte: »Sehr schlau, er hält sicher zu Angela.«

Traratrara! blies der eine Postillon, und der andere lachte vergnügt vor sich hin. Sonderbar, der sah beinahe wie der alte Diener aus.[103]

Quelle:
-, S. 95-104.
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