Sechsundsechzigstes Kapitel.

[277] Unter Nero wurden Abendvorstellungen, die früher nur selten und ausnahmsweise stattgefunden hatten, sowohl im Zirkus wie im Amphitheater zur Regel. Die Augustianer freuten sich darüber, denn oft schlossen sich ihnen Gastmähler und Trinkgelage an, die sich bis zum Morgen ausdehnten. Wie sehr auch das Volk des Blutvergießens überdrüssig war, so strömten doch, da sich die Kunde verbreitet hatte, das Ende der Spiele stehe bevor und die letzten Christen würden bei der abendlichen Schaustellung sterben, unzählige Scharen ins Amphitheater. Die Augustianer waren bis auf den letzten Mann erschienen, denn sie hatten erfahren, daß es keine gewöhnliche Vorstellung geben werde und daß der Caesar sich entschlossen habe, Vinicius' Schmerz zu einer Tragödie zu verarbeiten. Tigellinus hatte es geheim gehalten, welche Art der Marter über die Braut des jungen Tribuns verhängt worden sei, aber dies steigerte nur noch die Spannung. Wer Lygia früher in Plautius' Hause gesehen hatte, erzählte Wunderdinge über ihre Schönheit. Andere beschäftigte vor allem die Frage, ob sie wirklich heut in der Arena erscheinen werde, denn viele von denen, die dabei gewesen waren, als der Caesar bei Nervas Feste Petronius' Frage beantwortete, faßten seine Worte als doppelsinnig auf. Einige behaupteten geradezu, Nero werde Vinicius das Mädchen übergeben oder habe dies vielleicht schon getan; sie erklärten, Lygia sei eine Geisel, der es freistehe, jede beliebige Gottheit zu verehren, und deren Bestrafung nach dem Völkerrecht unzulässig sei.

Ungewißheit, Erwartung und Neugier beherrschten alle Zuschauer. Der Caesar selbst war früher gekommen als gewöhnlich, und sofort nach seinem Erscheinen begann man sich von neuem zuzuflüstern, daß sicher etwas Außergewöhnliches bevorstehe, denn Nero war außer von Tigellinus und Vatinius von Cassius begleitet, einem Centurio von Riesenwuchs und Riesenstärke, den er nur dann bei sich hatte,[278] wenn er einen Beschützer zur Seite haben wollte, wie z.B. wenn er seine nächtlichen Ausflüge nach der Subura unternahm, wo er sich damit belustigte, auf der Straße aufgegriffene Mädchen auf einem Soldatenmantel in die Luft zu schnellen – ein Vergnügen, das sagatio hieß. Auch bemerkte man, daß im Amphitheater selbst gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen worden waren. Die Prätorianerwachen waren verstärkt worden, und das Kommando über sie führte nicht ein Centurio, sondern der Tribun Subrius Flavius, der wegen seiner blinden Ergebenheit Nero gegenüber bekannt war. Man ersah daraus, das sich der Caesar gegen jeden Ausbruch der Verzweiflung von Vinicius' Seite sicherstellen wolle, und dies vermehrte nur noch die Spannung.

Aller Blicke wandten sich mit angestrengter Aufmerksamkeit dem Platze zu, auf dem der unglückliche Verlobte saß. Er war über die Maßen blaß, Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, und er war ebenso wie die anderen Zuschauer im ungewissen, aber dabei bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele aufgeregt. Petronius, der selbst nicht genau wußte, was bevorstand, hatte ihm nichts mitgeteilt, und ihn nur, als er von Nerva zurückgekehrt war, gefragt, ob er auf alles gefaßt sei, und dann, ob er dem Schauspiele beiwohnen wolle. Vinicius hatte beide Fragen bejaht, aber dabei hatte ihm ein Schauer den ganzen Körper überriefelt, denn er erkannte, daß Petronius nicht ohne Absicht frage. Er lebte seit geraumer Zeit gleichsam nur noch halb auf der Erde, er wünschte sich selbst den Tod und hatte sich mit dem Gedanken an Lygias Tod ausgesöhnt, da dieser für beide Befreiung und Vermählung bedeute; allein jetzt erkannte er, daß es etwas ganz anderes sei, von ferne an den letzten Augenblick als an ein friedliches Entschlummern zu denken, als die Martern des Wesens, das ihm das teuerste auf Erden war, mitanzusehen. Alle früher empfundenen Qualen erwachten wieder in ihm, die bereits verstummte Verzweiflung schrie von neuem laut auf in seiner Seele; es packte ihn wiederum[279] das Verlangen, Lygia um jeden Preis zu retten. Schon früh am Morgen hatte er in die Cunicula eindringen wollen, um sich zu überzeugen, ob Lygia sich darin befinde, aber Prätorianerwachen standen an jedem Eingange und hatten so strenge Befehle, daß selbst die ihm bekannten Soldaten sich weder durch Gold noch durch Bitten bestechen ließen. Vinicius war es, als müsse ihn die Ungewißheit noch vor dem Beginn des Schauspiels töten. Dann und wann regte sich in der Tiefe seines Herzens noch die Hoffnung, Lygia befinde sich vielleicht nicht im Amphitheater und alle seine Befürchtungen seien grundlos. Bisweilen klammerte er sich mit aller Kraft an diese Hoffnung an. Er sagte sich, Christus könne Lygia wohl aus dem Gefängnisse zu sich nehmen, nicht aber ihren qualvollen Tod im Zirkus zulassen. Früher hatte er schon alles Christi Willen anheimgestellt, jetzt aber, wo er, von den Cunicula abgewiesen, auf seinen Platz im Amphitheater zurückkehrte und wo er aus den neugierigen Blicken, die ihn trafen, erkannte, daß seine schlimmsten Befürchtungen möglicherweise begründet sein könnten, jetzt begann er aus tiefster Seele ihn mit einer Inbrunst um Rettung anzuflehen, die beinahe etwas Drohendes an sich hatte. »Du kannst es,« wiederholte er, krampfhaft die Fäuste ballend, »du kannst es!« Niemals hatte er zuvor geahnt, daß der Augenblick, in dem das Schreckbild Wirklichkeit werden sollte, so furchtbar sein werde. Jetzt hatte er jedoch, ohne daß er sich von den Vorgängen in seinem Innern klare Rechenschaft geben konnte, die Empfindung, als müsse sich, wenn er Lygia gemartert sehe, seine Liebe in Haß, sein Glaube in Verzweiflung verwandeln. Zugleich aber entsetzte er sich über diese Gedanken, denn er fürchtete, Christus zu beleidigen, zu dem er um Erbarmen und um ein Wunder flehte. Er bat nicht mehr um ihr Leben, er wollte nur, daß sie sterbe, bevor sie die Arena betrete, und aus der Abgrundtiefe seines Schmerzes heraus wiederholte er in seinem Innern: »Dies wenigstens versage mir nicht, und ich will dich noch inniger lieben als bisher.«[280] Schließlich rasten seine Gedanken wie das sturmgepeitschte Meer. Es erwachte in ihm das Verlangen nach blutiger Rache. Es erfaßte ihn der wahnsinnige Wunsch, sich auf Nero zu stürzen und ihn vor den Augen aller Zuschauer zu erdrosseln; aber in demselben Augenblicke fühlte er, daß er durch dieses Verlangen von neuem Christus beleidige und seine Gebote übertrete. Zuweilen flammte ein Hoffnungsstrahl blitzartig in ihm auf, eine allmächtige und allerbarmende Hand könne noch alles, wovor seine Seele zitterte, abwenden; aber dieser Hoffnungsstrahl erlosch sofort und machte der niederschlagenden Erwägung Platz, daß er, der mit einem einzigen Worte diesen Zirkus zertrümmern und Lygia retten könne, sie dennoch verlasse, trotzdem sie ihm vertraute und ihn mit der ganzen Kraft ihres reinen Herzens liebte. Und ferner mußte er daran denken, daß sie jetzt im finsteren Cuniculum liege, schwach, hilflos, verlassen, den vertierten Wärtern auf Gnade und Ungnade überliefert, vielleicht ihren letzten Atem aushauchend, während er hier ratlos in diesem entsetzlichen Amphitheater saß, ohne zu wissen, welche Marter man für sie ersonnen habe und was sich im nächsten Augenblicke ereignen werde. Wie jemand, der in einen Abgrund stürzt, nach jedem Halme greift, der am Rande wächst, so klammerte er sich mit allen Kräften an dem Gedanken fest, daß nur der Glaube sie zu retten vermöge. Das blieb der einzige Weg! Petrus hatte ihm ja gesagt, daß der Glaube die Welt aus ihren Angeln heben könne.

Er raffte sich daher auf, kämpfte die Verzweiflung in sich nieder, faßte sein ganzes Wesen in dem einen Worte: »Ich glaube!« zusammen und wartete auf ein Wunder.

Aber wie eine allzu straff gespannte Saite springen muß, so brachte der Schmerz auch in seinem Innern etwas zum Springen. Totenblässe überzog sein Antlitz, sein Körper sank kraftlos zusammen. Er glaubte, sein Gebet sei erhört, der Tod nahe ihm. Es war ihm, als müsse Lygia nun auch sterben, und Christus nehme auf diese Weise sie beide[281] zu sich. Die Arena, die weißen Togen der zahllosen Zuschauer, das Licht der tausende von Lampen und Fackeln – alles verschwamm ihm vor den Augen.

Aber diese Ohnmacht dauerte nicht lange. Nach kurzer Zeit kam er wieder zu sich oder wurde vielmehr durch das Stampfen der ungeduldigen Menge geweckt.

»Du bist krank,« sagte Petronius zu ihm, »laß dich nach Hause tragen.«

Und ohne Rücksicht darauf, was der Caesar dazu sagen würde, erhob er sich, um Vinicius den Arm zu reichen und hinauszubegleiten. Das Herz schwoll ihm über vor Mitleid, und außerdem erbitterte ihn die Wahrnehmung, daß der Caesar durch den Smaragd hindurch auf Vinicius blickte und seinen Schmerz genau studierte, um ihn vielleicht später in pathetischen Strophen zu besingen und damit um den Beifall der Zuhörer zu buhlen.

Vinicius schüttelte den Kopf. Er konnte im Amphitheater wohl sterben, aber er konnte es nicht verlassen. Auch mußte die Vorstellung jeden Augenblick beginnen.

Und wirklich winkte der Stadtpräfekt beinah in demselben Momente mit einem roten Tuche; auf dieses Zeichen knarrte das Tor gegenüber dem Podium des Caesars in seinen Angeln, und aus der finsteren Höhlung trat Ursus in die hell beleuchtete Arena.

Der Hüne blinzelte mit den Augen, offenbar geblendet vom Lichte in der Arena, dann schritt er in die Mitte des weiten Platzes und sah sich um, als wolle er sich vergewissern, was ihm bevorstehe. Alle Augustianer und die meisten Zuschauer wußten, daß dies der Mann war, der Kroton erwürgt hatte, und daher lief bei seinem Erscheinen ein Murmeln durch sämtliche Sitzreihen. In Rom fehlte es nicht an Gladiatoren, die weit das Durchschnittsmaß übersteigende Kräfte besaßen, aber einen solchen Riesen hatten die Augen der Quiriten noch nie erblickt. Cassius, der auf dem Podium hinter dem Caesar stand, erschien im Vergleich zu diesem[282] Lygier als ein Zwerg. Die Senatoren, die Vestalinnen, der Caesar, die Augustianer und das Volk betrachteten mit dem Entzücken von Kennern und Liebhabern seine mächtigen, Baumstämmen an Umfang gleichenden Beine, seine Brust, die so breit war wie zwei nebeneinander gestellte Schilde, und seine herkulischen Arme. Das Gemurmel verstärkte sich jeden Augenblick. Für dieses Publikum gab es keinen größeren Genuß als solche Muskeln in Betätigung, in Anspannung, im Kampfe zu erblicken. Das Gemurmel ging in laute Zurufe und fieberhafte Fragen nach den Wohnsitzen des Volkes über, das solche Riesen hervorbringe. Währenddessen stand Ursus mitten im Amphitheater nackt, einem Steinkoloß ähnlicher als einem Menschen, mit seinem gefaßten, ernsten Barbarengesicht und betrachtete, als er die Arena leer erblickte, mit seinen blauen Kinderaugen voller Verwunderung bald die Zuschauer, bald den Caesar, bald die Gitter der Cunicula, von woher er seine Henker erwartete.

In dem Augenblick, wo er die Arena betrat, lebte in seinem schlichten Herzen anfangs die Hoffnung, es könne ihn vielleicht ein Kreuz erwarten; als er aber weder ein Kreuz noch das für dieses bestimmte Loch sah, glaubte er, er sei dieser Gnade unwürdig und es sei ihm ein anderer Tod beschieden, sicherlich durch wilde Tiere. Er war unbewaffnet und nahm sich vor, zu sterben, wie es einem Bekenner des »Lammes« zukomme, ruhig und geduldig. Vorher wollte er noch einmal zum Heiland beten; er kniete daher in der Arena nieder, faltete die Hände und erhob den Blick zu den Sternen, die vom Himmel herunter in den Zirkus hinein glänzten.

Dieses Verhalten mißfiel den Zuschauern. Sie waren jener Christen, die sich schlachten ließen wie Schafe, herzlich überdrüssig; sie meinten, wenn jener Riese sich nicht wehren wolle, so sei das ganze Schauspiel verfehlt. Einige riefen nach den Mastigophoroi, deren Aufgabe es war, die Verurteilten, die nicht kämpfen wollten, zu peitschen. Binnen kurzem war jedoch alles wieder still, denn niemand wußte, was[283] für ein Schicksal den Riesen erwarte und ob er nicht kämpfen werde, wenn er dem Tode Auge in Auge gegenüberstehe.

In der Tat hatte man nicht mehr lange zu warten. Plötzlich ertönten schmetternde Trompetenstöße, das dem Podium des Caesars gegenüberliegende Gitter öffnete sich, und in die Arena stürzte unter dem Geschrei der Tierwärter ein riesiger Auerochse aus Germanien, auf dem Kopfe den entblößten Leib eines Weibes tragend.

»Lygia! Lygia!« schrie Vinicius auf.

Dann faßte er sich mit beiden Händen an die Schläfen, krümmte sich wie von einem Speere getroffen und begann mit heiserer Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte, fortwährend zu wiederholen: »Ich glaube! ich glaube! ... Christus! ein Wunder!!«

Er merkte sogar nicht, daß Petronius ihm in diesem Augenblicke das Haupt mit der Toga verhüllte. Es war ihm, als habe ihm der Tod oder der Schmerz die Augen geschlossen. Er achtete auf nichts, er sah nichts. Es erfaßte ihn das Gefühl einer ungeheuren Leere. Alles Denken war aus seinem Geiste gewichen, nur die Lippen wiederholten instinktiv: »Ich glaube! ich glaube! ich glaube!«

Im ganzen Amphitheater herrschte lautlose Stille. Die Augustianer erhoben sich sämtlich von ihren Sitzen, denn in der Tat begann jetzt in der Arena ein außergewöhnliches Schauspiel. Als der riesige, zum Sterben bereite Lygier seine Königin auf den Hörnern des wilden Stieres erblickte, sprang er auf, als hätte ihn eine Flamme berührt, duckte sich und lief vornübergebeugt dem rasenden Tiere entgegen.

Von allen Seiten ertönte ein kurzer, bewundernder Aufschrei; dann trat dumpfe Stille ein: der Lygier hatte inzwischen im Nu den rasenden Stier erreicht und bei den Hörnern gepackt.

»Schau!« rief Petronius, indem er Vinicius die Toga vom Gesichte wegzog.[284]

Dieser erhob sich, warf das totenblasse Antlitz zurück und blickte mit starren, bewußtlosen Augen auf die Arena.

Sämtlichen Zuschauern stockte der Atem in der Brust. Man hätte das Summen einer Fliege im Amphitheater hören können. Man wollte den eigenen Augen nicht trauen. Solange Rom Rom gewesen war, hatte man nichts Ähnliches gesehen.

Der Lygier hielt den Stier an den Hörnern. Seine Füße bohrten sich bis zum Knöchel in den Sand ein, sein Rücken krümmte sich wie ein gespannter Bogen, sein Kopf lag zwischen den Schultern versteckt, an den Armen traten die Muskeln in einer Weise hervor, daß die Haut unter ihrem Drucke zu bersten drohte, aber er ließ den Stier nicht von der Stelle. Mann und Tier verharrten in einer solchen Regungslosigkeit, daß die Zuschauer ein die Taten des Herakles oder Theseus darstellendes Gemälde oder eine Marmorgruppe vor sich zu haben glaubten. Doch in dieser scheinbaren Ruhe war das furchtbare Ringen zweier sich bekämpfenden Mächte zu erkennen. Der Stier bohrte sich ebenso wie Ursus mit den Füßen in den Sand ein, und sein dunkler, zottiger Körper krümmte sich so zusammen, daß er wie eine riesige Kugel aussah. Wer zuerst weichen, wer zuerst fallen werde, das war die Frage, die für diese an derlei Kämpfen sich begeisternden Zuschauer in diesem Augenblicke eine größere Bedeutung besaß als ihr eigenes Schicksal, als ganz Rom und seine Weltherrschaft. Dieser Lygier war in ihren Augen jetzt ein Halbgott, der es verdiente, daß man ihn göttlich verehrte und ihm Statuen errichtete. Auch der Caesar war sogar aufgesprungen. Als er und Tigellinus von der Stärke des Mannes hörten, hatten sie dieses Schauspiel absichtlich so angeordnet und höhnisch zueinander gesagt: »Dieser Krotontöter mag auch den Stier erwürgen, den wir ihm aussuchen wollen.« Nun blickten sie voller Staunen auf das Bild, das sich ihren Blicken darbot, und wollten kaum an die Wirklichkeit des sich abspielenden Vorganges glauben. Im Amphitheater waren Leute zu sehen,[285] die die Hände emporstreckten und in dieser Stellung verharrten. Anderen bedeckte kalter Schweiß die Stirn, als ob sie selbst mit der Bestie im Kampfe lägen. Im ganzen Zirkus war nichts weiter zu hören als das Knistern der Flammen in den Lampen und das Geräusch der von den Fackeln herunterfallenden Kohlenstückchen. Die Stimme erstarb den Zuschauern auf den Lippen, das Herz pochte ihnen gegen die Rippen, als wollte es sie sprengen. Allen war es, als dauere der Kampf Jahrhunderte.

Mann und Tier standen immer noch in dem furchtbaren Ringen unbeweglich da, man hätte sagen können, wie in der Erde festgewurzelt.

Dann drang ein dumpfes, stöhnendes Gebrüll aus der Arena empor, das jeder Brust einen Aufschrei entpreßte; dann wurde es wieder still. Man glaubte zu träumen; unter den Eisenhänden des Barbaren begann sich der ungeheure Kopf des Stieres zu drehen.

Gesicht, Rücken und Arme des Lygiers waren purpurrot, der Rücken bog sich noch stärker. Es war ersichtlich, daß er den letzten Rest seiner übermenschlichen Kraft aufbot, daß diese aber auch nicht mehr lange vorhielt.

Immer dumpferer, heiserer, immer stöhnender wurde das Brüllen des Stieres und vermischte sich mit dem pfeifenden Atem des Riesen. Der Kopf des Tieres drehte sich immer stärker, und aus dem Maule hing ihm die rauhe Zunge lang herab.

Noch ein Augenblick, und zu den Ohren der näher sitzenden Zuschauer drang ein Geräusch wie das Krachen zermalmter Knochen, dann stürzte der Stier mit gebrochenem Genick zu Boden.

Im Nu löste der Hüne die Stricke von den Hörnern und nahm die Jungfrau auf seinen Arm. Seine Brust arbeitete heftig.

Sein Gesicht war blaß, die Haare klebten vom Schweiße zusammen, Schultern und Arme waren wie aus dem Wasser[286] gezogen. Kurze Zeit stand er halb bewußtlos da, dann erhob er die Augen und sah zu den Zuschauern auf.

Das Amphitheater raste.

Die Wände des Gebäudes erzitterten unter dem Toben der vielen tausende von Menschen. Seit dem Beginne der Spiele konnte man sich einer ähnlichen Aufregung nicht entsinnen. Die in den obersten Reihen Sitzenden verließen ihre Plätze, begaben sich nach unten und drängten sich in den Gängen zwischen den Bänken zusammen, um den starken Mann besser sehen zu können. Von allen Seiten ertönten dringende, hartnäckige Rufe um Gnade, die sich binnen kurzem in einen einzigen tosenden Aufschrei verwandelten. Der Riese war diesem die physische Kraft leidenschaftlich bewundernden Volk teuer und die erste Persönlichkeit Roms geworden.

Ursus begriff, daß die Menge verlangte, man solle ihm das Leben schenken und die Freiheit wiedergeben; aber offenbar kam es ihm nicht auf sich allein an. Eine Weile blickte er sich rings um, dann trat er vor das Podium des Caesars und erhob, während er ihm die Jungfrau auf den ausgebreiteten Armen entgegenhielt, die Augen mit flehendem Ausdruck, als wolle er sagen: »Erbarmt euch ihrer! Rettet sie! Ich habe es ja für sie getan!«

Die Zuschauer verstanden sehr wohl, was er begehrte. Der Anblick der ohnmächtigen Jungfrau, die sich neben dem riesigen Körper des Lygiers wie ein kleines Kind ausnahm, erregte das Mitleid des Volkes, das der Ritter und Senatoren. Ihre schlanke Gestalt, weiß, als sei sie aus Alabaster gehauen, ihre Ohnmacht, die furchtbare Gefahr, aus der der Hüne sie errettet hatte, und endlich ihre Schönheit und Lieblichkeit rührten aller Herzen. Einige glaubten, es sei ein Vater, der um Gnade für sein Kind bitte. Das Mitleid kam plötzlich zum Ausbruche wie ein Feuersturm. Man war des Blutes, des Hinmordens, des Marterns satt. Tränenerstickte Stimmen begannen um Gnade für beide zu bitten.[287]

Ursus ging inzwischen mit dem Mädchen auf den Armen um die ganze Arena herum, mit Gebärden und Blicken um ihr Leben flehend. Vinicius sprang auf, schwang sich über die Brüstung, welche die vordersten Sitze von der Arena trennte, eilte auf Lygia zu und bedeckte ihren entblößten Körper mit seiner Toga.

Dann riß er die Tunika von seiner Brust, zeigte auf die Narben der Wunden, die er im armenischen Kriege davongetragen hatte, und streckte die Hände gegen das Volk aus.

Die Begeisterung der Menge überstieg jetzt alles in den Amphitheatern Dagewesene. Die Menge begann zu stampfen und zu brüllen. Die um Gnade bittenden Stimmen wurden geradezu drohend. Das Volk hatte nicht nur dem Riesen seine Zuneigung geschenkt, sondern trat auch für das Mädchen, den jungen Tribun und beider Liebe ein. Die tausende von Zuschauern wandten sich mit zornfunkelnden Augen und geballten Fäusten gegen den Caesar. Dieser schwankte und zauderte. Gegen Vinicius empfand er zwar keinen Haß, und an Lygias Tode war ihm auch nichts gelegen; allein er hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, den Leib des Mädchens von den Hörnern des Stieres zerfleischt oder von den Zähnen wilder Tiere zerrissen zu sehen. Seine Grausamkeit, seine entartete Phantasie und seine entmenschte Lüsternheit fanden gleichermaßen an solchen Schaustellungen Gefallen. Und jetzt wollte das Volk ihn dieses Genusses berauben. Bei diesem Gedanken bedeckte sich sein aufgedunsenes Gesicht mit Zornesröte. Auch seine Eigenliebe gestattete ihm nicht, dem Willen des Volkes nachzugeben, aber zugleich wagte er aus angeborener Feigheit nicht, sich ihm zu widersetzen.

Er sah sich um, ob er nicht wenigstens bei den Augustianern nach unten gerichtete Finger als Zeichen der Verurteilung erblickte. Doch Petronius hielt die Hand empor und sah ihm beinahe herausfordernd ins Gesicht. Der abergläubische, zur Schwärmerei hinneigende Vestinus, der sich vor Geistern, aber nicht vor Menschen fürchtete, gab das Zeichen[288] der Gnade. Dasselbe taten der Senator Scaevinus, Nerva, Tullius Senecio, der alte berühmte Heerführer Ostorius Scapula, Antistius, Piso, Vetus, Crispinus, Minucius Thermus, Pontius Telesinus und der vom Volke hochverehrte Thrasea. Bei diesem Anblick ließ der Caesar mit dem Ausdruck der Verachtung und Kränkung den Smaragd fallen, aber Tigellinus, dem es vor allen Dingen darauf ankam, Petronius einen Possen zu spielen, beugte sich zu ihm herab und sagte: »Gib nicht nach, Gottheit; wir haben die Prätorianer.«

Nero wandte sich nach der Seite, wo der grimme, ihm mit ganzer Seele ergebene Subrius Flavius an der Spitze der Prätorianer stand, und sah etwas Unerwartetes. Das Gesicht des alten Tribuns war streng, aber von Tränen überströmt, und er hielt seine rechte Hand als Zeichen der Gnade empor.

Das Volk wurde wütend. Der Staub wirbelte unter den stampfenden Füßen auf und verhüllte das Amphitheater. Inmitten des Tobens wurden Stimmen laut: »Rotbart! Muttermörder! Brandstifter!«

Nero erschrak. Im Zirkus war das Volk unumschränkter Herr. Die Vorgänger des Caesars, namentlich Caligula, hatten es zwar mitunter gewagt, gegen den Willen der Menge zu handeln, aber stets hatte dies einen Aufruhr zur Folge gehabt, bei dem es sogar zum Blutvergießen gekommen war. Aber Nero befand sich in anderer Lage. Erstens brauchte er als Schauspieler und Sänger die Gunst des Volkes, und zweitens wünschte er es auf seiner Seite zu haben, um dem Senate und den Patriziern entgegentreten zu können, und namentlich nach dem Brande Roms versuchte er es mit allen Mitteln, die Menge zu versöhnen und ihre Wut auf die Christen abzulenken. Endlich sah er ein, daß längerer Widerstand geradezu gefährlich sei. Der im Zirkus ausgebrochene Aufruhr konnte die ganze Stadt ergreifen und unberechenbare Folgen haben.[289]

Er blickte sich noch einmal nach Subrius Flavius, nach dem Centurio Scaevinus, den Verwandten des Senators, nach den Soldaten um, und als er auch hier finster gerunzelte Brauen, erregte Gesichter und fest auf ihn gerichtete Blicke bemerkte, gab er das Zeichen der Gnade.

Donnernder Beifall ertönte von den obersten bis zu den untersten Sitzreihen. Das Volk war überzeugt, daß dem Leben der Verurteilten keine Gefahr mehr drohe; denn von diesem Augenblicke an standen sie unter seinem Schutze, und selbst der Caesar würde es nicht wagen, sie noch länger mit seiner Rachsucht zu verfolgen.

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 2, S. 277-290.
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