Vierundfünfzigstes Kapitel.

[166] Als Vinicius den Apostel verlassen hatte, begab er sich mit erneuter Hoffnung im Herzen nach dem Kerker. Auf dem Grunde seiner Seele lag zwar noch immer ein Rest der Verzweiflung und Furcht verborgen, aber er unterdrückte diese Stimme in sich. Es erschien ihm unmöglich, daß die Fürbitte des Stellvertreters Gottes und die Macht seines Gebetes erfolglos bleiben sollten. So schwankte er zwischen Hoffnung und Zweifel hin und her. »Ich will an Christi Barmherzigkeit glauben,« sprach er zu sich, »und wenn ich auch Lygia im Rachen eines Löwen erblickte.« Und in diesem Gedanken fand er gläubigen Trost, wenn auch seine Seele erbebte und kalter Schweiß ihm die Stirn bedeckte. Jeder Schlag seines Herzens wurde jetzt zum Gebet. Er begann das Wort zu verstehen, daß der Glaube Berge versetzen könne, denn er fühlte eine wunderbare Kraft in sich, die er vorher nie empfunden hatte. Es war ihm, als vermöge er etwas zu tun, was noch gestern nicht in seiner Macht gestanden hatte. Zuweilen hatte er die Empfindung, als sei das Unheil bereits vorüber. Wenn die Verzweiflung ihm noch innerliche Seufzer entpreßte, erinnerte er sich jener Nacht und jenes heiligen uralten Antlitzes, daß sich damals betend zum Himmel gewandt hatte. »Nein! Christus wird seinen ersten Jünger und den Hirten seiner Herde nicht unerhört lassen. Christus wird mich erhören, ich zweifle nicht daran.« Und er eilte als Überbringer guter Kunde ins Gefängnis.

Aber hier ereignete sich etwas Unerwartetes.

Die Prätorianer, die vor dem mamertinischen Gefängnisse lagen, kannten ihn schon alle und legten ihm gewöhnlich[166] nicht die geringste Schwierigkeit in den Weg; diesmal aber öffnete sich ihre Reihe nicht, sondern ein Centurio trat vor und sagte: »Verzeihe, edler Herr, wir haben heut Befehl, niemand einzulassen.«

»Befehl?« wiederholte Vinicius erblassend.

Der Soldat blickte ihn teilnahmsvoll an und entgegnete: »Ja Herr, Befehl vom Caesar. Es befinden sich viele Kranke im Gefängnis, und man fürchtet vielleicht, daß die Besucher die Ansteckung in die Stadt übertragen.«

»Du sagtest aber, der Befehl sei nur für heute gegeben.«

»Die Wache wird zu Mittag abgelöst.«

Vinicius schwieg und entblößte sein Haupt, denn der Pileolus, den er trug, schien ihm von Blei zu sein.

Der Soldat näherte sich ihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Beruhige dich, Herr. Ursus und die Wärter beschützen sie.«

Bei diesen Worten beugte er sich vor und zeichnete im Nu mit seinem langen gallischen Schwerte die Gestalt eines Fisches auf die Steinplatten.

Vinicius sah ihn erstaunt an.

»... Und du bist Prätorianer? ...«

»Bis auch ich dort weile,« entgegnete der Soldat, nach dem Kerker zeigend.

»Auch ich verehre Christus.«

»Sein Name sei hochgelobt. Ich weiß es, Herr. Ich darf dich nicht ins Gefängnis einlassen; wenn du aber einen Brief schreiben willst, so werde ich ihn den Wärtern übergeben.«

»Ich danke dir, Bruder!«

Er reichte dem Centurio die Hand und entfernte sich. Der »Pileolus« hatte sein Bleigewicht verloren. Die Morgensonne beschien die Kerkermauern, und mit ihren Strahlen drang neue Hoffnung in Vinicius' Herz. Dieser Soldat, ein Christ, war für ihn ein neuer Beweis für die Macht Christi. Nach einer Weile blieb er stehen, wandte den Blick[167] zu den rosigen Wolken empor, die über dem Kapitol und dem Tempel des Jupiter schwebten, und sagte: »Ich habe sie heute nicht gesehen, Herr, aber ich glaube an deine Barmherzigkeit.«

Zu Hause wartete Petronius auf ihn, der wie gewöhnlich »die Nacht zum Tage machend,« erst unlängst heimgekehrt war. Er hatte soeben ein Bad genommen und sich salben lassen, um zur Ruhe zu gehen.

»Ich habe Nachrichten für dich,« sagte er. »Ich war heut bei Tullius Senecio, bei dem auch der Caesar war. Ich weiß nicht, wie die Augusta auf den Gedanken verfallen ist, den kleinen Rufius mitzunehmen ... Vielleicht wollte sie des Caesars Herz durch seine Schönheit erweichen. Unglücklicherweise schlief das Kind, von Müdigkeit übermannt, während des Vorlesens ein, genau so wie einst Vespasian. Als der Rotbart dies bemerkte, schleuderte er einen Becher nach ihm und verwundete ihn schwer. Poppaea fiel in Ohnmacht; der Caesar aber sagte laut, so daß es alle hören konnten: ›Ich habe diese Brut satt‹ – und du weißt – dies bedeutet so viel wie ein Todesurteil.«

»Das Strafgericht Gottes schwebt über der Augusta,« erwiderte Vinicius; »aber wozu erzählst du mir das?«

»Ich teile es dir deshalb mit, weil Poppaeas Zorn dich und Lygia verfolgt. Ist sie mit ihrem eigenen Unglücke beschäftigt, vergißt sie vielleicht ihre Rache und läßt sich leichter umstimmen. Ich will sie heut abend besuchen und mit ihr sprechen.«

»Ich danke dir. Du hast mir eine gute Nachricht mitgeteilt.«

»Nimm jetzt ein Bad und geh schlafen. Du hast blaue Lippen, und es ist nur ein Schatten von dir übrig geblieben.«

Vinicius fragte jedoch: »Weißt du nicht, wann der erste ludus matutinus stattfinden wird?«

»In zehn Tagen. Doch kommen erst andere Kerker an die Reihe. Je mehr uns Zeit verbleibt, um so besser. Es ist noch nicht alles verloren.«[168]

Als er dies sagte, glaubte er selbst nicht an seine eigenen Worte; denn er wußte bestimmt, daß Lygia nicht mehr zu retten sei, da der Caesar auf Aliturus' Bitte jene erhaben klingende Antwort gegeben hatte, in der er sich mit Brutus verglich. Auch verschwieg er aus Mitleid, was er von Senecio gehört hatte, daß nämlich der Caesar und Tigellinus beschlossen hätten, für sich und ihre Freunde die schönsten christlichen Mädchen auszusuchen und vor der Marter zu schänden, der Rest aber sollte am Tage der Spiele selbst den Prätorianern und Tierwärtern überlassen werden.

Da er wußte, Vinicius wolle Lygia auf keinen Fall überleben, flößte er ihm in dieser Zeit absichtlich Hoffnung ein, zunächst aus Zuneigung für ihn, sodann aber, weil es ihm, dem ästhetisch gebildeten Mann, auch darauf ankam, daß Vinicius, wenn er schon einmal sterben mußte, in Schönheit sterbe, nicht mit einem von Kummer und Schlaflosigkeit verwüsteten und entstellten Antlitz.

»Ich werde heut ungefähr folgendermaßen zur Augusta sprechen,« fuhr er fort: »Rette Vinicius Lygia, und ich rette dir Rufius. Ich werde bestimmt daran denken. Ein einziges Wort zum Rotbart im passenden Augenblick gesprochen, kann jemanden retten oder verderben. Schlimmstenfalls gewinnen wir Zeit.«

»Ich danke dir,« versetzte Vinicius.

»Am besten würdest du mir danken, wenn du essen und schlafen wolltest. Bei Athene! Selbst in den größten Gefahren dachte Odysseus ans Schlafen und Essen. Du bist gewiß wieder die ganze Nacht im Gefängnisse gewesen?«

»Nein,« entgegnete Vinicius. »Ich wollte jetzt zum Gefängnisse gehen, aber es ist Befehl gegeben worden, niemand einzulassen. Erkundige dich doch, lieber Petronius, ob dieser Befehl nur für heut gilt oder für die ganze Dauer der Spiele.«

»Ich werde mich heut abend danach erkundigen, und morgen früh werde ich dir mitteilen, weshalb der Befehl erlassen[169] worden ist. Doch jetzt gehe ich schlafen, und wenn auch Helios selber aus Trauer in die kimmerischen Gefilde herabsteigen sollte. Und du folge meinem Beispiele.«

Sie trennten sich; Vinicius begab sich aber nach der Bibliothek und begann einen Brief an Lygia.

Als er mit Schreiben fertig war, überbrachte er ihn selbst dem christlichen Centurio, der ihn sofort ins Gefängnis trug. Nach einiger Zeit kehrte er mit einem Gruße Lygias und mit dem Versprechen zurück, er werde noch heut ihre Antwort abholen.

Vinicius wollte jedoch nicht nach Hause gehen, sondern setzte sich auf einen Steinblock, um auf Lygias Brief zu warten. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, und durch den Clivus Argentarius strömten wie gewöhnlich Scharen von Menschen dem Forum zu. Händler riefen ihre Waren aus, Wahrsager boten den Vorübergehenden ihre Dienste an; Bürger eilten raschen Schrittes den Rostra zu, um einen berühmten Redner zu hören oder gegenseitig Neuigkeiten auszutauschen. Als die Hitze höher stieg, drängten sich Scharen von Müßiggängern unter die Säulenhallen der Tempel, aus denen unaufhörlich ganze Schwärme von Tauben mit großem Geräusch aufflogen, so daß ihre weißen Federn im Sonnenscheine erglänzten und sich von dem blauen Himmel abhoben.

Infolge der großen Hitze, des Lärmes und der schweren, übermäßigen Anstrengung fielen Vinicius die Augen zu. Das eintönige Geschrei Mora spielender Knaben und der gemessene Schritt der Wachen versenkten ihn in Schlaf. Einigemal erhob er noch den Kopf und richtete die Augen fest auf das Gefängnis; endlich aber lehnte er sich an einen Stein, seufzte wie ein nach langem Weinen schläfrig gewordenes Kind und entschlummerte. Bald stellten sich Traumbilder ein. Es war ihm, als trage er Lygia bei Nacht auf seinen Armen durch einen ihm unbekannten Weinberg, und vor ihnen her ginge Pomponia Graecina mit einer Kerze und leuchte ihm. Eine Stimme gleich der des Petronius[170] rief ihm aus der Ferne zu: »Komme zurück!« Er achtete aber nicht auf diesen Ruf und folgte Pomponia weiter bis zu einer Hütte, auf deren Schwelle der Apostel Petrus stand. Er zeigte diesem Lygia und sagte: »Wir kommen aus der Arena, Herr, können sie aber nicht erwecken; wecke du sie auf.« Petrus antwortete jedoch: »Christus selbst wird kommen und sie auferwecken.«

Dann fingen die Bilder an sich zu verwirren. Er sah im Traume Nero und Poppaea, letztere hielt den kleinen Rufius mit seiner verletzten Stirn auf dem Arme, während Petronius die Wunde wusch; Tigellinus streute Asche auf die mit köstlichen Speisen besetzten Tische. Vitellius verschlang diese Speisen, und viele andere Augustianer hatten an der Tafel Platz genommen. Er selber befand sich an Lygias Seite; zwischen den Tischen liefen Löwen umher, deren Mähnen von Blut trieften. Lygia bat ihn, er möge sie fortbringen, allein ihn hatte eine so schreckliche Kraftlosigkeit befallen, daß er unfähig war, ein Glied zu bewegen. Inzwischen entstand unter den Bildern eine immer größere Verwirrung, und endlich versank alles in völlige Finsternis.

Erst die Sonnenhitze und der Lärm auf dem Platze rings um ihn weckten Vinicius endlich aus seinem festen Schlafe. Er rieb sich die Augen; die Straße wimmelte von Menschen; aber zwei Läufer in goldfarbigen Tuniken stießen laut schreiend mit langen Stäben die Menge beiseite, um einer kostbaren Sänfte Platz zu machen, die von vier starken ägyptischen Sklaven getragen wurde.

In der Sänfte saß ein weißgekleideter Mann, dessen Gesicht schwer zu erkennen war, da er eine Papyrusrolle dicht vor die Augen hielt und aufmerksam darin las.

»Platz für den edlen Augustianer!« riefen die Läufer.

Doch die Straße war so belebt, daß die Sänfte kurze Zeit halten mußte. Der Augustianer legte die Rolle beiseite, beugte sich hinaus und rief: »Stoßt die Schufte weg! Schnell!«[171]

Als er aber Vinicius erblickte, zog er den Kopf zurück und hielt sich die Papyrusrolle rasch wieder vor die Augen.

Vinicius fuhr sich mit der Hand über die Stirn, da er glaubte, er träume noch.

In der Sänfte saß Chilon.

Inzwischen hatten die Läufer den Weg freigemacht, und die Ägypter standen im Begriff weiterzugehen, als der junge Tribun, dem auf einmal vieles ihm bisher Unverständliche klar wurde, plötzlich an die Sänfte herantrat.

»Sei gegrüßt, Chilon!« sprach er.

»Junger Mann,« erwiderte der Grieche mit Würde und Stolz, indem er sich bemühte, seinem Gesichte einen Ausdruck von Ruhe zu geben, die er innerlich nicht besaß, »sei gegrüßt, aber halte mich nicht auf, denn ich muß rasch zu meinem Freunde, dem edlen Tigellinus.«

Vinicius hielt aber den Rand der Sänfte fest, sah ihm scharf ins Gesicht und fragte mit leiser Stimme: »Hast du Lygia verraten?«

»Memnonssäule!« rief Chilon erschreckt.

Allein in Vinicius Augen lag keine Drohung, und so ging die Angst des Griechen bald vorüber. Er bedachte, daß er unter dem Schutze des Präfekten und des Caesars selbst stand, das heißt zweier Mächte, vor denen alles zitterte; außerdem war er von starken Sklaven umgeben, während Vinicius unbewaffnet und mit abgehärmtem Gesicht und Körper vor ihm stand.

Bei diesen Erwägungen kehrte ihm seine Keckheit zurück. Er blickte Vinicius in die Augen, die von roten Ringen umgeben waren, und flüsterte: »Als ich vor Hunger beinahe umkam, hast du mich peitschen lassen.«

Eine Zeitlang schwiegen beide, dann sprach Vinicius leise:

»Ich habe dir unrecht getan, Chilon! ...«

Der Grieche erhob den Kopf, schnalzte mit den Fingern, was in Rom ein Zeichen der Geringschätzung und Verachtung war, und sagte so laut, daß alle Umstehenden es hören[172] konnten: »Lieber Freund, wenn du eine Bitte an mich hast, so komme im Laufe des Vormittags nach meinem Hause auf dem Esquilin. Nach dem Bade empfange ich Freunde und Klienten.«

Er winkte mit der Hand; auf dieses Zeichen hoben die Ägypter die Sänfte auf, die Sklaven in goldfarbigen Tuniken schwangen ihre Stäbe und riefen: »Platz für die Sänfte des edlen Chilon Chilonides! Platz, Platz!«

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 2, S. 166-173.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Quo vadis
Quo vadis?: Eine Erzählung aus der Zeit Neros
Quo vadis?: Vollständige Ausgabe
Quo vadis?: Roman
Brockhaus Literaturcomics Quo vadis?: Weltliteratur im Comic-Format
Quo vadis?

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon