9. Szene.

[67] Doktor Faust in einem prachtvollen Zimmer. Mephistopheles.


MEPHISTOPHELES. Bist du nun geheilt?

DOKTOR FAUST. Ich bin es.

MEPHISTOPHELES. Siehst nun ein, daß es für die Menschen keinen Lehrmeister gibt als Unglück?

DOKTOR FAUST. Leider! Ich seh's. Aber wofür, wofür gab ich dir mich hin? Was soll mir denn dein Gold und deine Macht?

MEPHISTOPHELES. Zu genießen!

DOKTOR FAUST. Ich hatte einen goldnen Traum. Meine Seele sonnte sich an der glühenden Idee: Rächer zu sein der gemißhandelten Menschheit, furchtbarer Würger des Lasters und der Tyrannei, Schirmer der Unschuld und Schwäche, brüderlich alle Menschen des Erdkreises einander in die Arme zu führen und Frieden, Frieden, ewigen Frieden auszugießen über die weite Schöpfung.

MEPHISTOPHELES halb für sich. Träume nur! Träume, bis der Wecker ruft.[67]

DOKTOR FAUST schwärmend. Vaterland, Vaterland! O daß ich dem holden Wahne deines Daseins entsagen muß! Dulden wollt' ich für dich all die Qualen der Hölle, ausbluten jede meiner Adern!

MEPHISTOPHELES. Und emporragen mit verklärtem Scheitel über die gedrängten grauen Häupter der Jahrhunderte!

DOKTOR FAUST. Recht so, Zergliederer! Dein Dolch ist scharf. Nein, nein, du sollst mir den Glauben an Tugend nicht rauben. Wenn die Vernunft ausäderte all die Falten der Menschenseele und all ihre Triebfedern; wenn unter ihrem Messer die Tugend zerfloß in der Selbstheit vergiftenden Dunst, so rief mein Gefühl sie wieder zurück und schuf aus den Atomen der Seele eine Gottheit. O, mein Vaterland!

MEPHISTOPHELES. Was ist das? Phantom der Einbildungskraft.

DOKTOR FAUST. O nein, nein! Es ist das Glück einer großen Familie anzugehören, sein Interesse zu verschmelzen in ihres, sich zu sonnen in ihrer Liebe, sich zu verklären im Wiederschein ihrer großen Taten und großen Männer.

MEPHISTOPHELES. Und das suchst du in Deutschland? Wo Nachbar dem Nachbar fremd ist, in jeder Hofstatt ein eigner Hahn kräht, als sei er Beherrscher des Erdkreises? Die Mauer des Kirchhofs den Ruhm des großen Mannes verschließt, wie seine Asche? Faust, Faust! Hör' auf zu träumen, weil es noch Zeit ist! Gabst du nicht der Welt die größte aller Künste? Sieh hinaus in die Zukunft und lächle über deinen Ehrgeiz! – Faust, der Hexenmeister wird lange auf allen Schauplätzen der Gaukler und Possenreißer, in allen Bierschenken und Gassenhauern glänzen, den Drucker kennt niemand. – Wie gefällt dir die lustige Unsterblichkeit?

DOKTOR FAUST. Dein Dolch trifft gut, Skorpion! – Da hab' ich nun der Menschheit den Scheidebrief gegeben, schwebe zwischen Himmel und Hölle! – Satan, was soll aus mir werden?

MEPHISTOPHELES. Sag' ab all deinen Schwärmereien und Träumen! Sei klug und genieße!

DOKTOR FAUST. Ich schloß den Bund, die große Wunde der Menschheit bis in ihren Grund zu sondieren, und wär's[68] möglich, sie zu heilen. Du zeigst mir sie unheilbar. Ich schloß den Bund, der Zukunft Schleier zu heben und ihre Tiefe mit Götterblick durchzuschauen, und du zeigst mir Schatten in grauer Ferne, gaukelnd in verworrenen Massen. – Sprich! Warum ist der Lasterhafte glücklich, und die Tugend in Tränen? Hinweg mit dem ehernen Riegel vom Tempel der Gerechtigkeit! Löse mir dies Rätsel, oder ich verlasse dich! – Du verstummst?

MEPHISTOPHELES. Mein Dasein ist deine Antwort.

DOKTOR FAUST sinnend. Dein Dasein? Ist's nichts als das? So ist unser Bund zerrissen.

MEPHISTOPHELES mit furchtbarer Stimme. Tor! An den Ketten unsres Bunds schlägt die Ewigkeit sich wund.

DOKTOR FAUST. Du drohst? Verwegner, zittre, es ist ein Etwas in mir, das deines Grimms lacht. Und dies Etwas ist unabhängig, frei und mein, bis zum letzten Moment.

MEPHISTOPHELES. Und dies Etwas wäre?

DOKTOR FAUST. Mein Stammbaum: der Gottheit Funke! – Ha, wie die aufgedunsne Majestät zusammensinkt!

MEPHISTOPHELES. Vergib mir! Halte Wort und laß uns Freunde sein! Kannst du zürnen, wenn mir's grollt, daß die blühende Gegenwart dir dahinwelkt unter der Sichel der täuschenden Phantasie? Die Gegenwart beut dir freundlich ihre volle Schale; du stößt sie zurück und entwindest gewaltsam der Zukunft ihren blutigen Dolch? Alles um dich her ist Täuschung, Gaukelei und Schatte, nur der Vergangenheit Abdruck in der Zukunft Spiegel. Nur dein Selbst ist Wahrheit! Fasse dies, sei glücklich und genieße!

DOKTOR FAUST. Und dieser Genuß, was frommt er mir?

MEPHISTOPHELES. Vergessenheit! Süßen Wahnsinn! Selige Trunkenheit!

DOKTOR FAUST. Vergessenheit! Wahnsinn! Trunkenheit! Seele, dies wär' also dein gepriesener Adel und Zweck?

MEPHISTOPHELES. Du forschtest und rangst und strebtest. Was fandst du heller, bestimmter und genügender?

DOKTOR FAUST sinnend. Zerfleischen möcht ich dich und mich für Wut, daß du recht hast. Armer Faust! Mit dem[69] ersten Zuge aus der Schale des Lasters war dein Bund mit dem Satan unterzeichnet. Der Rest – Gaukelei! Hervor denn mit deinen Freuden! Ich will taumeln, weil denn dies armselige Dasein die Nüchternheit nicht verlohnt! Hervor! Skorpion, du schlauster aller Kuppler! Die Tugend hat mich ermordet; gieße mir neues Leben ein!

MEPHISTOPHELES. Was verlangst du, teurer Gebieter!

DOKTOR FAUST. Laß Saitenspiel durch den Palast schallen! Es ist ja dein treuer Gehilfe. Die Musik erhebt sich. – Bravo, edler Künstler! Lade den Tanz, die Scherze und Liebesgötter ein! Gruppen von Tanzenden erscheinen und führen ein Ballet auf. – Bravo! Laß Bacchus Nektar in Strömen fließen! Wein fließt aus zwei Bassins. Gut! Aber wie leer läßt all dein Gaukelspiel meine Seele! Du kannst meine Sinne berauschen, nicht mein Herz.

MEPHISTOPHELES. Wir wollen sehen! Blicke hinter diesen Vorhang! Sieh der Liebe Freuden und ihren vollen, ins Unermeßliche vermannigfaltigten Genuß! Sieh, die Wonne, die die üppige Phantasie der allmächtigsten Leidenschaft schuf! Sieh das lebendige Gemälde der Liebeswonne mit seinen glühendsten Farben! Sieh die schäumende, überströmende Schale der Wollust und trinke nicht – wenn du kannst! Gruppen von Mädchen erscheinen und verlieren sich tanzend hinter dem Vorhang.

DOKTOR FAUST mit Wärme. Bravo, mein guter Kuppler! Seid mir willkommen, holde Ideale des Phidias und Zeuxis! Ihr seid einen Sinnenrausch wert! Schön gedrechselt, wirklich! Und was weiter? Auch Schwelgerei hascht nach Wunderbarem. Rufe mir die Venus Griechenlands, die reizende Helena aus ihrem Grabe hervor! Laß sehen, ob sie dieses eiskalte Herz, wie einst Troja, in Brand stecken kann! Helena erscheint.

DOKTOR FAUST in höchster Schwärmerei. O bei allen Mächten der Hölle, du hast gesiegt! Schöne Göttin, empfange mich! O Natur, wie tief liegst du unter ihren Füßen! Vater Homer, du warst blind und besangst ihren Ruhm! Ja, ja! Ein Blick dieses holden Augs war mehr als griechisches Feuer, ein Hauch dieser Lippen entflammt unauslöschliche Glut. Ich fühle[70] sie in all meinen Adern. In meine Arme, holder Engel! – O Vernunft, spiele demütig mit diesen schönen Locken! Weisheit, entschlummre an diesem Schwanenhals! Komm, komm! O welcher Wahnsinn, Glück zu suchen außer dem Kreise deiner Arme. Glorie außer dem Widerschein deines holden Antlitzes! Er umfaßt sie. Du liebst mich, Göttin der Erde und des Meers?

HELENA. Ich liebe dich!

DOKTOR FAUST. So fleuch denn, fantastischer Traum der Vergangenheit! An diesem Busen will ich mein Dasein finden. Wonne! Wonne! Er umarmt sie, der hintere Vorhang fällt.


Quelle:
Soden, Julius von: Doktor Faust. Neustadt a.d. Aisch 1931, S. 67-71.
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