Adeline, oder der edle Kuss

[215] Ein aufgegebenes Impromtü


Adelinens holde Jugend

Krönte jede Frauentugend;

Alle Ritter nah' und fern

Nannten sie den ersten Stern.

Jeder strebt' ihr zu gefallen,

Doch sie war nur höflich allen.

Was sie that und was sie sprach,

Allem folgte Beifall nach.

Nur die Weiber in dem Städtchen

Nannten sie ein eitles Mädchen,

Eine kleine Schwärmerin

Mit verkehrtem, stolzem Sinn.

Einmal im Gesellschaftskreise

- Jeder übet seine Weise –

Scheuchte streng ihr ernster Blick

Jeden Stutzer kalt zurück;

Da erschien gebückt am Stabe,

Und nicht weit entfernt vom Grabe,

Würdevoll ein armer Greis,

Bart und Haare silberweiss.

Nach ihm, auf der Liebe Wogen,

Ward der Gute hingezogen.[216]

Einer von den edlen Herrn,

Auf der Brust den goldnen Stern

(Aber warlich nicht darunter)

Sprach mit Hohn: »das nimmt mich Wunder,

Dass ihr's waget!« – ja er schwur:

»Einen Kuss, mein Fräulein! nur

Diesem kecken alten Greise

Auf die lange, dunkle Reise;

Alter Graubart! dir zahl' ich

Hundert Thaler, küsst sie dich!«

Und bescheiden sprach die Gute,

Als ihr Auge sinnig ruhte

Auf des Alten edlem Blick;

»Du verdienst ein bess'res Glück!

Dich kann nicht mein Kuss erheben;

Aber lass mich zwei dir geben!

Und der Herr dort nicht allein

Soll sich edler Wonne freun.

Nimm sie an als Huldigungen,

Nicht als Sieg, im Kampf errungen!«

Und die Damen und die Herrn

Sprachen: »seht, wie küsst sie gern!«-

Als sie schüchtern sich und leise

Näherte dem edlen Greise, –

Keine Muse sagt es nach,

Was sein Herz im Stillen sprach.

Und erblassend sah der Prahler,

Dass sie legte hundert Thaler[217]

Auf den Teller, jetzt so hold,

Und nun forderte sein Gold.

Mogt' ihn auch sein Wort gereuen,

Von dem Nachbar musst' er leihen;

Dann gab's Adelinen's Hand

Hin dem Greise, und verschwand!

Wag' es, vom gemeinen Leben

Dich zum höhern zu erheben,

Uebe Tugend, Recht und Pflicht,

Du gewinnst die Thoren nicht! –

Sey des Lasters nied'rer Sklave,

Und verdiene jede Strafe,

O wie seh'n sie dich so gern,

Ihnen stehst du nicht mehr fern; –

Darum fühle dich erhoben

Ueber das, was Thoren loben:

Denn bezeuget nicht ihr Tadel

Deines Herzens höhern Adel?

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 215-218.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wilbrandt, Adolf von

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.

62 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon