An die Tugend

[8] Tugend, Licht im Erdenthale,

Funke Gottes, leuchte mir!

Deine Glorie umstrale

Meine Pfade für und für!

Lehre mich die Wahrheit trennen

Von des Irthums Schattenbild;

Lehre mich die Freude kennen,

Die aus deinem Frieden quillt!


Von der Gottheit Sonnenthrone

Kamst du mild zu uns herab,

Auf dem Haupt die Stralenkrone,

In der Hand den Herrscherstab.

Jedes Laster, niedrer Seelen

Flieht vor deinem reinen Blick

Zu den ewig finstern Höhlen

Der Avernos-Nacht zurück!


Du veredelst die Empfindung,

Du erhöhst der Liebe Glück,

Deine sichern Pfade führen

Den Verirrten bald zurück;

Selig, wem an deinem Busen

Heil'ger Freundschaft Blume blüht,

Wer bekränzt von holden Musen

Nur in deinem Feuer glüht!
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Nimmer welken deine Kränze,

Deiner Blüthen ew'ge Pracht;

Deines Lichtes Stral verkläret

Unsres Schicksals finstre Nacht.

Deines Segens goldner Frieden,

Des Bewustseyns süsse Ruh

Fächeln selbst dem Lebensmüden

Hoffnung, Trost und Duldung zu!


Wer in deinem vollen Glanze

Einmal selig dich erblickt,

Wird vom leeren Sinnenrausche

Eitler Freuden nie entzückt,

Seine Brust kann nichts erschüttern,

Immer bleibt er fessellos,

Muthvoll unter Ungewittern

Und im Unglück frei und gross. –


Durch des Lebens Labyrinthe

Wandelt er in stiller Ruh,

Genien der Unschuld fächeln

Stärkung ihm im Kampfe zu;

Wenn sein letzter Abend sinket

Und sein Aug' sich ewig schliesst,

Ists die Tugend, die ihm winket,

Die sein letzter Blick noch grüsst!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 8-10.
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