Die Frühlingsnacht

[207] Aus den feuchten Nebelwolken thauen

Perlen nieder auf die durst'gen Auen,

Und der Blüthen weisse Schleier wehn,

Grau verdämmernd, um die luft'gen Hügel;

Kosender Zephyre seidne Flügel

Fächeln kühlend um die dunklen Höhn!


Hoch erglänzen tanzende Plejaden,

Trübe schimmern thauige Hyaden,

Glühend schwimmt Arkturus in dem Strom.

Banges Schweigen waltet durch die Räume;

Sieh'! da wecken ernst des Wallers Träume

Glockenschläge von dem fernen Dom!


Seine Laute rufen zu den Sternen

Nach der Heimath, über jenen Fernen,

Mahnend künden sie den Flug der Zeit,

Aus des Nebelthales engen Schranken

Schweben, lichter schauend, die Gedanken

Nach den Auen der Unsterblichkeit.
[208]

Schöne Nacht! wie sinnig und wie milde

Zauberst du den Ernst um die Gebilde,

Schatten schweben überm Blumen -Rain! –

Malerisch taucht sich der weisse Flieder

In die dunklen Fluten zitternd nieder,

Lunens Silberlicht durchglänzt den Hain;


Holde Nacht! auf stille Friedensauen

Läss'st du Segen, mild hernieder thauen;

Deiner Athemzüge leises Wehn

Hauchet Nektar in die reinen Lüfte,

Heilige, geweihte Opferdüfte

Wallen feiernd um die dunklen Höhn;


Stille Nacht! des süssen Grams Vertraute,

Deinen Frieden stören Seufzer-Laute,

Elegieen sind dein Wiegenlied!

Aber Ruhe dämmert sanft hernieder,

Müde stärkt der kräft'ge Schlummer wieder

Und die Hoffnung, die ihn wachend flieht.


Traute Nacht! wenn Zweifel mich verwirren,

Die beschränkten Blicke rastloss irren

Um den Schmerz, womit die Tugend ringt,

Wenn ich Kräfte seh' im Kampf verbluten,

Seh', wie das Geschick verfolgt den Guten,

Und das Laster hoch empor sich schwingt;
[209]

Ernste Nacht! dann flieh' ich aus den Stürmen,

Ruhe suchend unter deinem Schirmen,

Lege kindlich mich in deinen Schoos.

Hüll', o Nacht, mich ein, in deinen Schleier,

Bis der neuen Morgenröthe Feier

Um die Himmel waltet still und gross.


Heil'ge Nacht! bald wirst du untergehen,

Und es naht ein grosses Auferstehen,

In die Dämm'rung sinkest du dahin;

Sieh'! schon öffnet ihre goldnen Thore

Im Verklärungsglanze hold Aurore,

Und die bangen Schattenbilder fliehn!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 207-210.
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