An das scheidende Jahr

[76] Hebe weg die Thränenblicke

Von dem Schimmer dieser Welt,

Monde fliehen, Jahre eilen –

Auch des lezten Sandkorn fällt;

Unaufhaltsam rauscht's von hinnen,

Schon sein Ende nah't heran,

Sieh', die lezten Tropfen rinnen

In den großen Ozean!


Fleug dann hin mit allen Leiden,

Die dir Krieg und Elend gab,

Sinke in die grauen Wogen

Hin in deiner Brüder Grab;

Birg in deinen dunklen Fluten

Jede That, die Prüfung scheu't,

Nur die Redlichen und Guten

Kröne mit Unsterblichkeit.
[77]

Auf der Hoffnung goldnen Flügeln

Schwebe, neues Jahr! heran,

Lohne jede edle Tugend,

Scheuche Vorurtheil und Wahn;

Um die Unschuld zu erretten,

Sprich dem kühnen Frevler Hohn,

Brich der Tyrannei die Ketten,

Stürz' das Laster von dem Thron.


Dring in öde Kerkergrüfte,

Wo verjährtes Elend weint,

Reiche großmuthsvoll die Rechte

Zur Versöhnung jedem Feind;

Wenn mit giftgeschwoll'nem Geifer

Neid und Schmähsucht hämisch spricht,

O dann reiß mit edlem Eifer

Ihr die Larve vom Gesicht!


Zeige nackt des Heuchlers Blöße,

Wenn er kriechend Lob erstrebt,

Winde dem Verdienste Kränze,

Das in stiller Größe lebt![78]

Wecke himmlisches Erbarmen,

Mitleid, das zur Hülfe dringt,

Wenn verzweiflungsvoller Armen

Wilder Schmerz die Hände ringt.


Ströme in gebrochne Herzen,

Stillen Frieden, süße Ruh;

Führe lebensmüde Waller

Ihrer stillen Heimath zu.

Wenn getrennter Herzen Leiden

Von gebleichten Wangen spricht.

Mal' des Wiedersehens Freuden

In der Hoffnung schönstem Licht.


Nach zwölf Trauerjahren führe

Uns den goldnen Frieden zu,

Wehe mit der Friedenspalme

Ueber Teutschland Glück und Ruh;

Reife für der Traube Kelter

Süßen Most auf Rebenhöhn;

Ueber blutgedüngte Felder

Müssen goldne Saaten wehn.
[79]

Hehr und hoch wird dann dein Name

Ueber deinen Brüdern stehn,

Nicht im grauen Strom der Zeiten

Mit den tausend untergehn;

Von beglückten Nationen

Werden Hymnen dir geweiht,

Die, dich würdig zu belohnen,

Krönen mit Unsterblichkeit!

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 76-80.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon