Aussicht

[28] Durch der Dämm'rung grauen Nebelschleier

Steigt mein naßgeweinter Blick empor.

Phöbus hebt sich; vor des Tages Feier

Weicht der Schöpfung trüber Trauerflor.


So verklärt sich nach dem Sturm des Lebens

Jede Thrän', die sich dem Aug' entwand –

Keine trank der Erde Staub vergebens,

Sie ward aufgefaßt von Gottes Hand.


Nebel schwinden, und der Tag schwebt freier

Ueber goldbesäumte Wolken her,

In der Morgenröthe Rosenschleier

Röthet sich die Schöpfung um mich her.


Also wird nach diesen Labyrinthen

Freudetrunken mein verklärter Geist[29]

Hoher Schöpfung weisen Rath ergründen,

Der mich dunkle Pfade wallen heißt.


Diese Hofnung soll mich höher bringen,

Soll mir Trost in trüben Stunden seyn;

Wird mir helfen, jeden Kampf erringen,

Und zu neuer Duldung Kraft verleih'n.

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 28-30.
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