Zwanzigstes Capitel.

[212] Speise und Trank und Schlaf hatten mir die alte Kraft vollauf wiedergegeben, und so konnte ich meine Rolle in dem Räuber- und Gensdarmenspiel mit besserm Erfolge, als am ersten Tage in den folgenden Tagen fortsetzen.

Diese Tage, es waren ihrer drei oder vier, bilden eine seltsame Episode in der Geschichte meines Lebens, so daß mir manchmal ist, als hätte ich sie gar nicht selbst erlebt, sondern hätte davon gelesen in einem Märchenbuche. Ja, wie ein Märchen ist mir nach so vielen Jahren – dreißig sind es jetzt – die Erinnerung dieser Tage, wie ein Märchen von dem bösen Knaben, der sich im Walde verirrte und dem dort allerlei sehr Schlimmes begegnete, und der doch auch wieder so viel blaue Himmelsluft athmen, und so viel goldenen Sonnenschein trinken, und sich so vogelfrei über die schöne Erde bewegen konnte, daß man, wer weiß wie viele Stationen auf der Pappelchaussee seines rangirten Daseins darum geben würde, könnte man so märchenhaftes Leid und Glück einmal oder einmal wieder an sich selbst erfahren.

Als ob der Himmel selbst es gnädig mit dem bösen Knaben meinte, der, was er immer gefehlt haben mochte, es in seines jugendlichen Sinnes Thorheit gefehlt hatte, und vielleicht, Alles in Allem, so gar bös nicht war, sendete er ihm für seine abenteuerliche Flucht ein paar der allerschönsten Spätherbsttage. Die Regenstürme der letzten Zeit hatten die Luft durchsichtig klar gemacht, daß die fernste Ferne wie nächste Nähe erschien. Dazu strömte ein machtvolles und doch unendlich mildes Sonnenlicht von dem wolkenlosen Himmel und drang in die tiefsten Tiefen des Waldes, von dessen Riesenbäumen die gelben Blätter still herabschwebten zu den andern, die hier und da schon hoch den Boden bedeckten. Kein Laut in der sonnigen Wildniß, als dann und wann aus dem Gebüsche das melancholische Zirpen einer Goldammer oder das heisere weitschallende Krächzen einer Krähe, welcher das Gewehr, das der junge Mann da unten trug, verdächtig sein mochte; oder der durch die Entfernung abgedämpfte Schrei von Kranichen, die, unbekümmert um das irdische[213] Treiben, in unermeßlicher Höhe ihren stolzen Flug gen Süden zogen.

Dann lag ich wieder im Herzen des Waldes auf einem nach allen Seiten abfallenden Hügel, der leicht ein Hünengrab sein mochte, und schaute zu, wie unter mir zwischen den gewaltigen Steinen Ehren-Reinecke aus seinem Malepartus kroch und es sich in der Frühmorgensonne behaglich machte, während ein paar Schritte weiter die halberwachsenen Jungen in ansgelassenster Lustigkeit sich jagten und über einander kollerten; oder ich sah im Abendschein ein Rudel Hochwild über die Lichtung ziehen, den Platzhirsch zuletzt, stolz aufgerichteten Hauptes, das er nur zuweilen senkte, ein Kraut abzurupfen, die Kühe ruhig vor ihm her äsend.

Dann wieder stand ich auf jäher Uferhöhe hart am Rande der trotzigen Kreidefelsen und blickte sehnsüchtig hinaus auf das blaue Meer, an dessen fernstem Horizont ein Wölkchen die Stelle zeigte, wo der Dampfer, den ich seit einer Stunde beobachtet hatte, verschwunden war, während auf mittlerer Höhe die Segel von ein paar Fischerbooten blinkten. Das Wölkchen war verschwunden, die weißen Segel wurden kleiner, und ich wendete mich seufzend in den Wald zurück, kaum noch hoffend, daß es mir gelingen werde, von der Insel wegzukommen.

Schon ein paar Mal hatte ich den Versuch gemacht. Einmal in einem kleinen Fischerdorf, das in einem Einschnitte der Kreideküste in der Tiefe einer schmalen Bucht lag und das Bild der Abgeschiedenheit und Vereinsamung war. Aber die Männer waren mit den seetüchtigen Booten sämmtlich auf dem Fischfange; nur ein uralter Mann und ein paar halbwüchsige Buben waren außer den Weibern und Kindern da. Wenn der Fang gut war, konnten zwei Tage vergehen, bis die Männer zurückkamen, und daß den Herrn einer so weit fahren würde, glaube er nicht. So sagte mir der alte Mann, und ein paar rothaarige Kinder standen dabei und glotzten mich mit aufgesperrten Mäulern an und eine alte Frau kam herzu und bestätigte die Aussage des alten Mannes, während die Sonne in's Meer tauchte und ein kühler Wind die Schlucht hinab zum Meere blies, dessen Wasser zu dunkeln begannen.

Es war der zweite Tag meiner Wanderschaft. Die erste Nacht hatte ich in einer verlassenen Schäferhürde zugebracht;[214] ich dachte, ich könne einmal wieder unter Dach schlafen, und die würdige Matrone, der ich mein Anliegen vortrug, räumte mir bereitwillig das Kämmerchen ihres Sohnes ein, der vor drei Jahren ausgesegelt war und noch nichts wieder von sich hatte hören lassen. Ich hätte in diesem von aller Welt abgeschiedenen Winkel vielleicht tagelang, ohne entdeckt zu werden, zubringen können; aber die Nothwendigkeit, erst einmal von der Insel fortzukommen, war zu gebieterisch, und so brach ich in der Frühe des nächsten Morgens wieder auf, mein Heil anderwärts zu versuchen.

Ich that es in einem größern Fischerdorf. Es waren Boote genug da und Leute genug, aber Keiner wollte mich fahren, trotzdem ich für die kurze Fahrt von wenigen Meilen (weiter war es nicht bis zur mecklenburgischen Küste, wo ich mich für verhältnißmäßig sicher halten durfte) zehn Thaler, die Hälfte meiner Baarschaft bot. Ob sie wußten, wer ich war – wie wohl möglich – oder ob ihnen der junge, verwildert aussehende Mensch mit der Flinte auf dem Rücken, der durchaus auf fremdes Gebiet verlangte, verdächtig vorkam; ob sie nur, da ich es doch einmal so eilig hatte und es mir an Geld nicht zu fehlen schien, durch Zaudern und Hinhalten ein höheres Fahrlohn erpressen wollten – ich weiß es nicht. Als aber eine Stunde mit Hin- und Herreden vergangen war und Karl Bollmann sich bereit erklärte, wenn Johann Peters sein Boot hergeben wollte, der wiederum erbötig war, die Fahrt mitzumachen, aber nur auf Karl Bollmann's Boot, und Christian Riekmann, der mit den Händen in den Hosentaschen dabei stand, meinte, er wolle mich schon mit seinem Jungen fahren, aber nicht unter dreißig Thalern, und sie dann Alle die Köpfe zusammensteckten und nach und nach die ganze Einwohnerschaft – Weiber und Kinder eingeschlossen – herbeikam, schien es mir gerathener, das Resultat dieser Verhandlungen nicht abzuwarten, sondern wendete mich kurz ab und schlug mich mit langen Schritten in die Dünen. Ein halbes Dutzend kam hinter mir her – ich zeigte ihnen von weitem meine Flinte und da blieben sie zurück, als weise Männer bedenkend, daß weit davon gut vor dem Schuß ist.

An diesem Tage erhielt ich auch den Beweis dafür, daß man mich ernstlich verfolgte, woran ich freilich nie gezweifelt hatte.[215]

Es war nämlich schon gegen Abend, als ich, eine Strecke freien Landes, die ich zu durchschreiten hatte, vom Saume des Waldes aus recognoscirend, auf der Landstraße zwei Gensdarmen zu Pferde sah, die längere Zeit mit einem Schäfer sprachen, welcher seine Heerde auf der Haide zwischen der Landstraße und dem Walde trieb. Ich bemerkte, daß sie wiederholt nach dem Walde deuteten, doch mußte ihnen der Schäfer wohl befriedigende Auskunft gegeben haben, denn sie ritten nach einiger Zeit in der entgegengesetzten Richtung weiter und verschwanden bald in einer Senkung des Terrains. Als ich sie weit genug entfernt glaubte, kam ich aus meinem Verstecke heraus und gesellte mich zu dem Schäfer, der an einem langen schwarzen Strumpfe strickte, und dessen einfältiges Gesicht mir ausreichende Gewähr der Sicherheit bot. Er erzählte mir auf mein Befragen, daß die Gensdarmen hinter Einem her wären, der ja wohl Einen todtgeschlagen habe. Es solle ein großer, junger Mensch sein, und ein sehr schlimmer Mensch, aber die Gensdarmen hätten gesagt, sie kriegten ihn doch noch.

Die üppige Phantasie des Strümpfestrickenden hatte vermuthlich in der kurzen Zeit zwischen dem Verschwinden der Gensdarmen und meinem Erscheinen Muße genug gehabt, sich das Bild des Verfolgten möglichst fürchterlich auszumalen. Jedenfalls erkannte er mich in Wirklichkeit nicht; er nahm mich ohne Bedenken, für was ich mich gab: einen Jägersmann, der auf einem der benachbarten Güter zu Besuch sei und, der Gegend unkundig, sich verirrt habe. Er gab mir über die Wege genaue Auskunft, bedankte sich für das Trinkgeld, das ich ihm in die Hand drückte, und ließ vor Verwunderung seinen Strickstrumpf fallen, als ich, anstatt den von ihm gewiesenen Weg zu gehen, über die Haide in den Wald zurückkehrte.

Die Nähe der Gensdarmen hatte mich doch stutzig gemacht und ich hatte beschlossen, diese Nacht im Walde zuzubringen. Es war eine böse Nacht. So warm es am Tage gewesen, so kalt wurde es jetzt, nachdem die Sonne untergegangen, und immer kälter und kälter, je weiter die Nacht vorschritt. Vergebens, daß ich mich fußtief in die feuchtdürren Blätter vergrub – vergebens, daß ich durch Hin- und Hergehen mich zu erwärmen suchte. Die dichten Nebel, die von der Erde aufstiegen, durchnäßten meine Kleider und durchkälteten[216] mich bis in's Mark. Entsetzlich langsam schlich die lange, lange Nacht dahin; ich glaubte, es würde nie wieder Tag werden. Und zu diesem physischen, kaum erträglichen Leiden der Kälte, der ich mich nicht erwehren, des Hungers, den ich nicht stillen, der Müdigkeit, der ich nicht nachgeben konnte, gesellte sich die Erinnerung dessen, was ich jüngst durchlebt, je länger die Nacht dauerte, und je wilder das Fieber in meinen Adern wüthete, in immer grauenhafteren Bildern. Während ich, halb todt vor Mattigkeit, auf einer freieren Stelle unter den hohen Bäumen im Nebelgeriesel auf und ab schwankte, sah ich mich wieder an Herrn von Zehren's Seite auf dem Moor und Jochen Swart lag todt zu unsern Füßen, und die Flammen des brennenden Hofes leuchteten grausig über uns hin, aber viel heller als es in Wirklichkeit der Fall gewesen war, so hell, daß mir war, als brenne der Wald rings um mich her und als irrte ich in höllischen Feuern, obgleich meine Glieder vor Kälte zitterten und meine Zähne in immer schnellerem Tempo aufeinanderklappten. Dann saß Herr von Zehren vor mir, wie ich ihn zuletzt hatte sitzen sehen, mit gebrochenen Augen, in welche die aufgehende Sonne schien, und dann war es wieder nicht Herr von Zehren, sondern mein Vater, oder der Professor Lederer, oder andere Gestalten; aber alle waren sie todt, und die Sonne schien ihnen in die gebrochenen Augen. Dann wurde ich mir wieder meines Zustandes voll bewußt: daß es finstere Nacht um mich her war, daß mich sehr fror, daß ich fieberte und daß ich auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, mich entschließen müsse, ein wirkliches Feuer zu entfachen, anstatt des gräßlichen, unheimlichen, das ich fortwährend in meinen Fieber-Hallucinationen sah, gerade wie ein auf heißer Landstraße Verdurstender das Rauschen schattiger Bäume und das Plätschern von Quellen zu hören glaubt.

Ich trug für den Fall, der jetzt eintrat, ein großes Stück Zunder, das ich aus einem hohlen Baume gebrochen, in der Jagdtasche. Mit Hülfe desselben gelang es mir, nach einiger Zeit einen Stoß halbwegs trockenen Holzes in Brand zu setzen, und ich kann das Wonnegefühl nicht beschreiben, das mich durchbebte, als endlich die Flamme hoch emporschlug. Vor ihrem ehrlichen Schein huschten die Fiebergeister in die Finsterniß zurück, die sie geboren hatte; vor ihrer köstlichen Wärme floh die Eiskälte aus meinen Adern; ich[217] schleppte neues und neues Material herbei, ich konnte mich des Anblickes der glänzenden Flammen, des schwälenden Rauches, der davonstiebenden Funken nicht ersättigen. Dann setzte ich mich an meinen Waldesheerd und dachte darüber nach, was ich thun könne, mich aus dieser Lage zu bringen, die, wie ich wohl sah, auf die Dauer unerträglich war. Endlich glaubte ich, es gefunden zu haben. Ich mußte den Versuch machen, über einen der Orte, von denen aus eine regelmäßige Verbindung mit dem Festlande statt fand und die ich bis jetzt aus guten Gründen geflissentlich vermieden halte, zu entkommen, und zwar verkleidet, da man mich sonst jedenfalls sofort erkannt haben würde. Die Schwierigkeit war, einen passenden Anzug zu erhalten und auch hier kam mir ein glücklicher Gedanke. Ich hatte in der Kammer des Matrosen, in welcher ich die letzte Nacht zugebracht, einen vollständigen Fischeranzug hangen sehen; vielleicht verkaufte mir den die freundliche Alte. War ich in dieser Verkleidung erst einmal von der Insel, so sollte es mir doch, meinte ich, gelingen, in einem nächtlichen Marsche bis zur mecklenburgischen Grenze zu kommen. Dann mußte der Zufall weiter helfen.

Ich führte diesen Entschluß aus, sobald der Morgen graute, und traf, obgleich ich mich bereits ein bis zwei Meilen von dem einsamen Fischerdorfe entfernt hatte, kurz nachdem die Sonne aufgegangen, dort wieder ein. Die brave Alte wollte von keinem Kauf wissen: ich brauche die Sachen, und das sei genug; vielleicht helfe ein anderer Mensch dafür ihrem Sohne, wenn er noch lebe, im fernen Lande aus einer Gefahr – und dabei liefen ihr die Thränen über die alten, runzeligen Wangen. Meine Sachen und die Flinte – die Pistole hatte ich bei Hans gelassen – wolle sie mir aufheben; ich könne sie jeden Augenblick haben, wenn ich wieder in die Gegend komme. Wofür mich die gute Alte genommen haben mag? Ich weiß es nicht. Ich denke, für einen Menschen, der so aussah, als ob er in Noth sei, der behauptete, daß ihm nur auf diese Weise geholfen werden könne, und dem sie deshalb half, wie er es wünschte. Die brave Seele! Ich bin später glücklicherweise im Stande gewesen, ihr ihre Gutthat einigermaßen zu vergelten, wenn eine Gutthat überhaupt vergolten werden kann.

Ich machte mich alsbald wieder auf den Weg, der diesmal unter mancherlei Fährlichkeiten quer durch die Insel[218] führte, zu einem Punkte, wo ich den Abend erwarten wollte, um mich nach Fährdorf zu begeben, das ich in einer Stunde erreichen konnte. Ich hatte nämlich im Vertrauen auf meinen Matrosenanzug, der mir vortrefflich paßte, und, wie ich glaubte, mir ein ganz anderes Aussehen gab, die directeste Ueberfahrt nach Uselin gewählt. Freilich mußte ich so meine Vaterstadt passiren; aber vielleicht suchte man mich hier gerade am wenigsten, und dann – gestehe ich es nur! – es bedurfte zu jener Zeit gar wenig, um in mir den alten Uebermuth zu entfachen, der mir in meinem jungen Leben schon so manchen bösen Streich gespielt hatte. Ich malte es mir mit einem grimmigen Behagen aus, wie ich nächtens durch die stillen Straßen meiner Vaterstadt wandern würde, und überlegte schon, ob ich nicht an die Rathhausthür den alten Spruch von den Nürnbergern und meinen Namen dazu schreiben solle. Dennoch wagte ich mich nicht vor Anbruch der Nacht nach Fährdorf.

Ich hatte das fällige Boot verpaßt; das nächste und letzte an diesem Tage segelte erst in einer halben Stunde. Da ich durch das Fenster gesehen hatte, daß das sehr geräumige Schänkzimmer des hart am Ufer gelegenen Gasthofes so gut wie leer war und ich mich nothwendig für den Marsch der Nacht stärken mußte, trat ich ein, setzte mich, mit dem Gesicht nach der Wand, an den entferntesten Tisch und bestellte bei dem Schänkmädchen ein Abendbrod.

Das Mädchen ging, die Bestellung auszurichten. Auf dem Tische neben dem Lichte, das die Kleine angezündet, lag eine mit Bierflecken arg besudelte Nummer des Useliner Wochenblattes vom vorigen Tage – ein anderes, reinlicheres Exemplar derselben Nummer liegt neben dem Blatte, auf welches ich dies schreibe. Ich nahm es zur Hand, mein erster Blick fiel auf folgenden Artikel:


Publicandum.


Der der gewerbsmäßigen Treibung der Contrebande, der thatsächlichen Widersetzlichkeit gegen Officianten des Staates, sowie des Mordes dringend verdächtige, zur Zeit flüchtige, ehemalige Schüler des Gymnasiums in Uselin, Friedrich Wilhelm Georg Hartwig, hat sich noch immer, trotz aller von Seiten der Behörden angewandten Mühe, der Verhaftung zu entziehen gewußt. Da es durchaus im Interesse des Publikums liegt, daß dieser nach allen Inzichten gefährliche Mensch[219] zur Haft, resp. Verbüßung der Strafe gebracht werde, ergeht an dasselbe die Aufforderung, seinerseits zu diesem Endzwecke beizutragen, indem Jeder, der über den Aufenthalt etc. des p.p. Hartwig eine Aussage zu machen hat, solche unverweilt zur Kenntniß des Unterfertigten bringt. Außerdem ersuchen wir wiederholt und ergebenst sämmtliche Behörden des In- und Auslandes, auf den p.p. Hartwig (Signalement weiter unten) strengstens zu vigiliren, denselben im Betretungsfalle zu arretiren und an uns auf unsere Kosten remittiren zu wollen, unter Zusicherung dienstwilligster Reciprocität im gegebenen Falle.

Uselin, 2. November 1833.

Das Bezirksgericht.

(gez.) Heckepfennig.


Das beigefügte Signalement will ich nicht ausschreiben; der Leser würde aus demselben nicht viel mehr erfahren, als daß ich mich zu jener Zeit dunkelblonden – »Brandfuchs« hatten mich die Jungen in der Schule genannt, wenn sie mich ärgern wollten – und gelockten Haares erfreute, sechs Fuß ohne Schuhe maß und, als ein wohlgebildetes Menschenkind keine »besonderen Kennzeichen« hatte, wenigstens nicht in den Augen des Herrn Justizraths Heckepfennig.

Uebrigens habe ich auch in jener für mich verhängnißvollen Stunde die actenmäßige Schilderung meiner Person schwerlich gelesen; ich hatte genug an dem mitgetheilten Publicandum. Als mir gestern Abend der Schäfer sagte: der Mann, den die Gensdarmen verfolgten, solle einen andern erschlagen haben, hatte ich das nicht einen Augenblick für baare Münze genommen. Der Mensch sah so einfältig aus, und wer weiß, dachte ich, was die Herren Gensdarmen ihm aufgebunden haben mögen, um sich wichtig und ihm bange zu machen! Aber hier stand es mit großen, deutlichen Lettern auf dem Löschpapier des Useliner Wochenblattes, das, da sehr selten andere Zeitungen in meine Hände gekommen waren, für meinen unkritischen Jugendsinn von jeher mit einer gewissen magistralen Autorität, ich möchte sagen, mit dem Stempel der Unfehlbarkeit bekleidet gewesen war. – Des Mordes verdächtig! War es möglich? galt ich als der Mörder von Jochen Swart? ich! der ich Gott gedankt hatte, als ich den Menschen, auf den ich schoß, sehr eilig davonhinken sah! ich, dessen einziger Trost es in all' diesen letzten Leidenstagen gewesen war, daß trotz alledem kein Menschenleben auf[220] meinem Gewissen laste! Und hier schrieb man in alle Welt hinaus, daß ich ein Todtschläger, ein Mörder sei!

Das Schänkmädchen brachte das bestellte Essen und ermahnte mich, glaube ich, keine Zeit zu verlieren, da das Fährboot bald absegeln werde. Ich hörte kaum das, was sie sagte; ich ließ das Essen unberührt und starrte noch immer in das Blatt, dessen erste Seite ich, als das Mädchen herantrat, schnell umgeschlagen hatte, als könnte mein Name, der da gedruckt war, mich verrathen. Aber da auf der zweiten Seite stand er abermals in einem Artikel, unter der Rubrik: Städtische Angelegenheiten.

Der Artikel lautete so:

»Gestern Abend hatte sich auf eine bisher noch unaufgeklärte Weise das Gerücht in der Stadt verbreitet, daß Georg Hartwig, dessen Name jetzt in Aller Munde ist, sich in das Haus seines Vaters geflüchtet habe und sich dort verborgen halte. Eine ungeheure Menschenmenge, die leicht aus hundert und mehr Köpfen bestehen mochte, versammelte sich in Folge dessen in der Ufergasse und verlangte stürmisch, daß ihr der jugendliche Verbrecher ausgeliefert werde. Vergebens, daß der unglückliche Vater von der Schwelle seines Hauses versicherte, daß sein Sohn nicht in seinem Hause, und daß er nicht der Mann sei, dem Gesetze Hindernisse in den Weg zu legen. Auch die energischen Bemühungen unserer braven Stadtdiener Luz und Bolljahn erwiesen sich als erfolglos; erst der beredten Ansprache unseres würdigen Herrn Bürgermeisters, der auf die erste Nachricht des Tumultes sofort herbeigeeilt war, gelang es, die immer noch anwachsende Menge zu zerstreuen. – Wir können nicht unterlassen, unsere Mitbürger auf das Thörichte und gewissermaßen Frevelhafte eines solchen Beginnens dringend aufmerksam zu machen, wie willig wir auch einräumen, daß die in Frage stehende Angelegenheit, welche leider immer bedeutendere Dimensionen anzunehmen scheint, ganz dazu angethan ist, die Gemüther aufzuregen. Aber wir wenden uns an die Verständigen, d.h. die weitaus größere Mehrzahl unserer Mitbürger, und fragen sie: dürfen wir nicht in unsere Behörde das vollste Vertrauen setzen? dürfen wir nicht überzeugt sein, daß unser Wohl in ihren Händen besser aufgehoben ist, als in unseren eigenen Händen? Und was den gestrigen Fall anbetrifft, so appelliren wir noch besonders an das Zartgefühl der Gutgesinnten.[221] Mögen sie bedenken, daß der Vater des unglücklichen Georg Hartwig einer der ehrenwerthesten Männer unserer Stadt ist. Er wäre, wie er selbst versichert hat und wie wir unsererseits fest überzeugt sind, der Letzte, welcher den Lauf der Gerechtigkeit aufhalten würde. Mitbürger! Ehren wir dieses Wort! ehren wir den Mann, der es gesprochen! Mitbürger! lasset uns gerecht sein, aber nicht grausam! und vor Allem lasset uns zusehen, daß der Ruf der Ordnung und des gesetzmäßigen Sinnes, dessen sich unsere gute alte Stadt so lange mit Recht erfreut hat, nicht durch unsere Schuld verloren gehe!«

Das mir wohlbekannte Signal, welches die Passagiere zum Fährboot rief, ertönte von der Landungsbrücke her, zugleich trat das Mädchen wieder herein und bedeutete mich, daß ich mich beeilen müsse.

»Aber Sie haben ja keinen Bissen gegessen!« rief sie und starrte mich verwundert und erschrocken an; ich mochte wohl sehr blaß und verstört aussehen.

Ich murmelte irgend eine Erwiederung, legte einen Thaler auf den Tisch und verließ eilends das Zimmer.

Das Fährboot war trotz der späten Stunde voll von Passagieren; in dem mittleren Raume standen zwei gesattelte Pferde, die nur Gensdarmen gehören konnten, und ich entdeckte auch bald ihre Reiter. Es waren dieselben, die ich gestern gesehen hatte, wie ich aus den Gesprächen hörte, die sie mit ihren Nachbarn, ein paar Bauern, führten. Sie schimpften darüber, daß man sie zurückbeordert, denn sie seien überzeugt, daß sie den Halunken gefangen haben würden, der ganz gewiß noch irgendwo auf der Insel versteckt sei, trotzdem sie dieselbe nebst noch zwei berittenen Kameraden und vier Kameraden zu Fuß nach allen Richtungen durchsucht hätten. Nun würden sich die Andern die Gratification verdienen, während sie helfen sollten, die Ruhe in der Stadt aufrecht zu erhalten, was sie gar nichts angehe, denn dazu seien ja der Bolljahn und der Luz da.

Ich saß dicht in ihrer Nähe und konnte Alles mit anhören, und dachte, welche Freude ich den braven Leuten machen könnte, wenn ich plötzlich aufstünde und sagte: hier ist der Halunke.

Aber ich konnte ihnen die Freude nicht machen; was zu thun ich entschlossen war, mußte aus einem freiem Antriebe[222] geschehen. So hielt ich mich still, und den weisen Dienern des Gesetzes kam es nicht in den Sinn, daß der junge Matrose, der scheinbar so eifrig zuhörte, der war, den sie suchten.

Der Wind war günstig und die Fahrt schnell, nach einer Stunde legte das Boot an der Fährbrücke in dem Hafen an. Die Pferde stampften, die Gensdarmen fluchten, die Passagiere drängten sich aus dem Fahrzeug und gingen mit ihren Bündeln die Brücke hinauf.

Oben auf dem Quai stand der dicke Peter Hinrich, der Wirth der Matrosenkneipe gleich am Thor, und fragte mich, ob ich nicht bei ihm Quartier nehmen wolle? Ich sagte, es wäre schon anderwärts Quartier für mich bereit.

So schritt ich durch das verfallene Hafenthor, das nie geschlossen wurde, und kam in die Hafengasse. Als ich zu dem kleinen Hause gelangte, blieb ich einen Augenblick stehen. Es war dunkel und still in dem Hause und es war dunkel und still auf der Straße: aber vorgestern war es hier belebt genug gewesen, und dort auf der Schwelle hatte ein Mann gestanden und gesagt, daß man sich sehr in ihm irre, wenn man glaube, er könne oder werde dem Gesetze ein Hinderniß in den Weg legen. Er sollte nicht noch einmal in den Verdacht kommen, daß er seinen Sohn in seinem Hause versteckt halte; er sollte sehen, daß diesem Sohne doch noch etwas an seinem eigenen guten Namen, wenn nicht an dem seines Vaters gelegen sei; daß er den Muth habe, einzustehen für das, was er gethan.

Die Vermahnung des Wochenblattes an das Publikum war nicht vergeblich gewesen; die kleine Stadt war wie ausgestorben; die energischen Männer Luz und Bolljahn hätten beim besten Willen nichts zu thun gefunden. Mein Schritt hallte laut in den öden Gassen, die mir heute sonderbar eng und winkelig erschienen; hier und da war noch Licht in den Fenstern; man ging sehr früh zu Bett in Uselin, und der Magistrat konnte deshalb auch die Straßenlaternen frühzeitig auslöschen, besonders wenn, wie jetzt, schon das erste Viertel des Mondes über das Dach der alten Nikolaikirche durch treibende Wolken melancholisch auf den stillen Marktplatz herniederblickte.

Ich stand auf dem Marktplatz vor dem Hause des Herrn Justizraths Heckepfennig. Es war der stattlichsten eines. Wie oft war ich hier, wenn ich des Mittags aus der Schule[223] kam, vorübergegangen, und hatte einen sehnsüchtig-respectvollen Blick nach dem letzten Fenster links in der oberen Etage geworfen, wo Emilie hinter einer Vase mit Goldfischen zu sitzen pflegte, und zufällig immer, wenn ich vorüberging – ein kleiner, halbblinder Fensterspiegel spielte den treuen Vermittler – nach irgend etwas auf dem Markte sehen mußte! Heute blickte ich wieder nach dem Fenster, aber mit sehr anderen Empfindungen. Es war Licht in dem Zimmer – dem Wohnzimmer der Familie. Der Justizrath pflegte dort seine Abendpfeife zu rauchen. Es stand zu vermuthen, daß sie ihm über dem Besuch, der ihm bevorstand, ausgehen werde.

Die Hausthüren in Uselin pflegten, bevor die Bewohner zu Bett gingen, nicht verschlossen zu werden; aber sei es, daß die von den Stadtdienern Luz und Bolljahn mit so opferfreudigem Muthe bekämpften Unruhen der letzten Tage eine größere Vorsicht räthlich erscheinen ließen, sei es, daß der Justizrath in seiner doppelten Eigenschaft als reicher Mann und als Mann des Gesetzes auch in diesem Punkte auf strengere Ordnung hielt – sein Haus war verschlossen, und es dauerte einige Zeit, bis auf mein wiederholtes Klingeln eine weibliche Stimme, nicht ohne eine gewisse Zaghaftigkeit im Ausdruck, durch das Schlüsselloch »Wer ist da?« fragte. Meine Antwort: »Jemand, der den Herrn Justizrath dringend zu sprechen wünscht«, schien der weiblichen Thürhüterin, die übrigens niemand anders sein konnte, als das hübsche Hausmädchen Jette, keine vollständige Beruhigung zu gewähren. Es entstand ein Flüstern, aus welchem ich schloß, daß Jette auch noch Male, die Köchin, mitgebracht hatte, dann ein Kichern, und dann der Bescheid, daß man es dem Herrn sagen wolle.

Ich patrouillirte in meiner Ungeduld vor dem Hause auf und ab, als in dem Wohnzimmer oben ein Fenster geöffnet wurde, und der Herr Justizrath in Person, den Kopf ein ganz klein wenig heraussteckend, die Frage seines Hausmädchens wiederholte, und von mir dieselbe Antwort empfing.

»In Sachen?« fragte der vorsichtige Mann.

»Ich komme von der Insel,« antwortete ich auf gut Glück.

»Aha!« sagte er und schloß das Fenster.

Der Justizrath hatte schon seit mehreren Tagen nichts[224] gethan, als Leute verhört, die ihm über die große Angelegenheit Auskunft geben sollten. Ein Schiffer und Fischer, der, von der Insel kommend, ihn des Abends zehn Uhr dringend zu sprechen wünschte, konnte nur in einer Eigenschaft und zu einem Zwecke kommen: eine wichtige Angabe zu machen, die vielleicht ein – in der That sehr nöthiges – Licht in das Dunkel der räthselhaften Affaire warf. Ich für mein Theil glaubte, daß der Herr Justizrath mich an der Stimme erkannt habe und daß sein Ausruf so viel heißen solle, als: bist du endlich da! Ich sollte alsbald erfahren, wie sehr ich mich getäuscht hatte.

Die Hausthür wurde aufgeschlossen; ich trat schnell herein. Kaum aber hatte der Schein des Lichtes, das Jette in der erhobenen Rechten hielt, mein Gesicht gestreift, als sie laut aufschrie, das Licht mit sammt dem Leuchter fallen ließ und eilig davonlief, während die Köchin, wenigstens was das Kreischen und Weglaufen anbetraf, dem Beispiele ihrer Genossin folgte. Die Köchin, welche eine bereits ältere Person war, hätte wohl verständiger sein können; indessen, sie kannte mich eben nur von Ansehen und hatte in letzterer Zeit jedenfalls die schrecklichsten Dinge von mir gehört; so will ich sie nicht weiter tadeln. Das Benehmen der hübschen Jette aber war unverzeihlich. Ich war um ihrer Herrin und vielleicht auch um ihrer selbst willen immer sehr liebenswürdig gegen sie gewesen; sie hatte das stets im vollstem Maße anerkannt, mich, wo und wann ich ihr begegnete, schelmisch angelächelt, und, so oft ich in das Haus gekommen war, jederzeit mit dem allerfreundlichsten Knix begrüßt, und heute – doch ich hatte heute an Anderes zu denken als an die Undankbarkeit eines Stubenmädchens. So schritt ich denn durch den dunkeln Hausflur, erstieg die mir wohlbekannte Treppe und klopfte an die Thür von des Justizraths Arbeitszimmer, welches neben dem Wohnzimmer lag, und wohin sich der Justizrath, um den späten Besuch zu empfangen, mittlerweile gewiß schon begeben hatte.

»Herein!« sagte der Justizrath.

Ich folgte dem Rufe.

Und da stand der Justizrath, wie ich ihn zu sehen erwartet hatte: die weitschichtige, große Gestalt in den weiten, großgeblümten Schlafrock gehüllt, die lange Pfeife in der Hand, und blickte, die schmale, niedrige, von kurzem, dichten[225] Haar umstarrte Stirn in gewichtige Falten legend, aus den kleinen, dummen Augen neugierig auf den Eintretenden.

»Nun, was bringen Sie mir, mein Lieber?« fragte der Justizrath.

»Mich selbst,« erwiederte ich mit leisem, aber festen Ton, indem ich nahe an ihn herantrat.

Meine Befürchtung, daß dem Mann über meinem Besuch die Pfeife ausgehen würde, erfüllte sich insofern, als er dieselbe einfach fallen ließ, und, ohne ein Wort zu erwiedern, die Schöße des großgeblümten Schlafrocks mit beiden Händen ergreifend, Rettung in dem Familienzimmer nebenan suchte.

Da stand ich nun neben der zerbrochenen Pfeife und trat die glühende Asche aus, die auf den kleine Teppich vor dem Arbeitstisch gefallen war, an welchem der Justizrath gestanden hatte. In dieser gewiß nicht verbrecherischen Beschäftigung wurde ich durch einen Ruf aufgeschreckt, der nebenan aus dem geöffneten Fenster auf den Markt nach dem Wächter erschallte. Es war die Stimme des Justizraths, aber dieselbe klang sehr heiser und kläglich, als ob den Rufer Jemand an der Kehle halte.

Ich trat an die Thür zum Familienzimmer und klopfte.

»Herr Justizrath!«

Keine Antwort.

»Frau Justizrath!«

Alles still.

»Fräulein Emilie!«

Eine Pause, und dann ein ängstliches Stimmchen, das ich so oft hatte lachen hören, mit dem ich auf Wasser- und anderen Fahrten so manches Duett gesungen hatte.

»Was wollen Sie?«

»Sagen Sie Ihrem Herrn Vater, Fräulein Emilie, daß, wenn er noch einmal nach dem Wächter ruft, und wenn er sich nicht alsbald hierher in sein Arbeitszimmer bemüht, ich weggehe und nicht wiederkomme.«

Ich hatte das in einem bestimmten, aber sehr höflichen Tone gesagt, der denn doch seine Wirkung nicht verfehlen mochte. Ein leises Zwie- oder vielmehr Dreigespräch ließ sich in der Nähe der Thür vernehmen. Die Frauen schienen den Gatten und Vater zu beschwören, daß er sein kostbares Leben nicht in eine so offenbare Gefahr bringe, während[226] der Gatte und Vater die gemeinschaftliche Furcht durch heroische Sentenzen, wie: aber es ist meine Pflicht! oder: es kann mich mein Amt kosten! zu beschwichtigen suchte.

Endlich siegte die durch so wichtige Bedenken unterstützte Tugend. Ich vernahm ein lautes Räuspern, die Thür wurde vorsichtig geöffnet und an dem großgeblümten Schlafrock vorbei hatte ich einen flüchtigen Blick auf die Haube der Frau Justizräthin und auf die Papilloten Fräulein Emiliens, deren krause, blonde Locken ich immer für ein schönes Spiel der Natur gehalten hatte.

Ach! zu den vielen großen Illusionen, die mir die letzten Tage zerstört hatten, mochte diese kleine gern mit in den Kauf gehen!

Der Justizrath hatte zögernd die Thür hinter sich geschlossen und kam zögernd ein paar Schritte näher, blieb dann stehen, und versuchte mich fest in's Auge zu fassen, was ihm nach einiger Mühe beinahe gelang.

»Junger Mann,« sagte er, »Sie sind allein?«

»Wie Sie sehen, Herr Justizrath.«

»Und ohne Waffen?«

»Ohne Waffen.«

»Ohne alle Waffen?«

»Ohne alle Waffen.«

Ich knöpfte meine Matrosenjacke auf, den Inquirenten von der Wahrheit meiner Aussage zu überzeugen. Der Justizrath schöpfte sichtlich Athem.

»Und Sie sind gekommen?«

»Mich dem Gerichte zu stellen.«

»Warum haben Sie das nicht sogleich gesagt?«

»Ich wüßte nicht, daß Sie mir dazu Zeit gelassen hätten.«

Der Justizrath warf einen verlegenen Blick auf die zerbrochene Pfeife am Boden, räusperte sich und schien nicht recht zu wissen, was er in einem so außerordentlichen Falle zu thun habe.

Es entstand eine Pause.

Die Damen nebenan mußten vermuthen, daß ich diese Pause dazu benutze, dem Gatten und Vater die Kehle abzuschneiden; wenigstens wurde in diesem Augenblicke die Thür aufgerissen, die Frau Justizräthin im Nachtkamisol und flatternder Nachthaube kam hereingestürzt unmittelbar auf den[227] großgeblümten Schlafrock zu, den sie mit allen Merkmalen tödtlicher Angst umklammerte, während Emilie, die dem Nachtkamisol auf dem Fuße gefolgt war, sich zu mir wandte, und mit theatralischer Geberde beide Hände abwehrend bis zur Höhe ihrer Papilloten erhob.

»Heckepfennig, er will Dich umbringen!« schluchzte das Nachtkamisol.

»Schonen Sie meinen alten Vater,« seufzten die Papilloten.

Und jetzt öffnete sich auch die Thür nach dem Flur. Jette und Male wollten, auf die Gefahr hin, mit ihrer Herrschaft zu sterben, wenigstens sehen, was oben passirte, und erschienen laut jammernd auf der Schwelle. Das Nachtkamisol brach bei ihrem Anblick in ein hysterisches Weinen aus, und die Papilloten schwankten nach dem Sopha, in der augenscheinlichen Absicht, dort in Ohnmacht zu fallen.

Hier nun bewies der Justizrath zum andern male, daß große Charaktere in großen Augenblicken groß zu handeln vermögen. Er löste mit sanfter Gewalt den großgeblümten Schlafrock aus der Umarmung des Kamisols und sagte mit einer Stimme, die den Entschluß verkündete, das Aeußerste zu thun und zu wagen: »Jette, hole mir meinen Rock!«

Dies war das Signal zu einer Scene unbeschreiblicher Verwirrung, aus der nach fünf Minuten das Opfer seiner Pflichttreue als Sieger mit Rock und Hut und Stock hervorging – ein erhabener Anblick, der nur dadurch einigermaßen beeinträchtigt wurde, daß die Füße des Helden noch immer mit gestickten Pantoffeln bekleidet waren, und er selbst dieses Umstandes nicht früher gewahr wurde, als bis es zu spät war, nämlich erst, als wir unten auf dem Pflaster des Marktes standen.

»Lassen Sie es gut sein, Herr Justizrath,« sagte ich, als er im Begriff war, umzukehren. »Sie kommen am Ende nicht wieder, und es sind ja nur ein paar Schritte.«

In der That war das kleine alte Rathhaus an der an dern Seite des keineswegs weiten Platzes gelegen; und das Pflaster war vollkommen trocken, so daß das Opfer der Pflichttreue nicht einmal einen Schnupfen zu befürchten hatte.

»Herr Justizrath,« sagte ich, während wir über den Marktplatz schritten; »nicht wahr, Sie werden meinem Vater bezeugen, daß ich mich freiwillig, ohne irgend eine Nöthigung[228] gestellt habe; ich will dann auch gegen Niemand ein Wort von der zerbrochenen Pfeife sagen.«

Ich habe viel thörichte und unüberlegte Worte in meinem Leben gesprochen, wenige, die unüberlegter und thörichter gewesen wären. Indem ich gerade auf den Punkt losging, der mir, ich möchte sagen, der einzig wichtige in dem ganzen Angelegenheit gewesen war, nämlich: meinem Vater, der mich verleugnet hatte, Trotz zu bieten, vergaß ich ganz, daß ich dabei so derb als möglich auf ein Paar gestickte Pantoffeln trat, die mir diese Beleidigung nie vergeben würden und in Wahrheit nie vergeben haben. Wer weiß, welche ganz andere Wendung mein Prozeß genommen, wenn ich, anstatt jener unverzeihlichen Dummheit, ein Lied vom braven Manne angestimmt hätte, der sich zwar vor einem möglichen, ja wahrscheinlichen Ueberfalle zu schützen wisse, dann aber seine Pflicht thue, entstehe daraus, was da wolle.

Was wußte ich, junger, gläubiger Thor, der ich war, von solchen Feinheiten!

Und so gelangten wir in die offene Halle des Rathhauses, wo bei Tage eine alte Kuchenfrau in einem ausgesägten Fasse vor einem Tische saß, dessen nicht immer reines Laken (auf welchem die Kuchen, die Rosinensemmeln und Bonbons lagen) von dem durch die Halle streichenden Wind beständig hin- und hergeweht wurde. Der Tisch war jetzt ohne Decke und gewährte einen sehr trostlosen Anblick – als wenn die alte Mutter Möller und nicht blos sie, sondern alle Kuchen, Rosinensemmeln und Bonbons der Welt für immer und immer gestorben wären. Eine seltsame Wehmuth ergriff mich; zum ersten und letzten mal an diesem Abend regte sich in mir der Gedanke, ob ich nicht doch besser thäte, das Weite zu suchen. Wer sollte mich halten? Der Pantoffelheld an meiner Seite wahrhaftig nicht; der alte Nachtwächter Rüterbusch, der vor dem Wachlocal in der Rathhaushalle im trüben Schein einer an der gewölbten Decke hin- und herschaukelnden Laterne auf- und abschlürfte, eben so wenig. Aber ich dachte an meinen Vater, und ob ihm nicht doch das Gewissen schlagen würde, wenn er morgen hörte, daß ich im Gefängniß säße – und ich stand ruhig dabei und hörte, wie der Nachtwächter Rüterbusch dem Herrn Justizrath Heckepfennig auseinandersetzte, daß sich die Sache sehr schwer würde »verwerkstelligen« lassen, sintemalen infolge der in den letzten Tagen[229] vorgenommenen Verhaftungen die ganze Custodie bis auf den letzten Platz gefüllt sei.

Die Custodie war ein ominöser Anbau des Rathhauses, der seine Fronte nach einer sehr schmalen Nebengasse hatte, in welcher die Schritte immer sonderbar hallten. Kein Useliner ging, wenn er es vermeiden konnte, durch diese hallende Gasse; denn in jenem ominösen Anbau des Rathhauses gab es keine Thür, dafür aber eine Reihe kleiner viereckiger, mit Eisenstäben vergitterter und zum Ueberfluß mit Holzblenden halbverdeckter Fenster, hinter denen sich hier und da einmal ein bleiches Armesündergesicht zeigte.

Eine Viertelstunde, nachdem die Unterredung zwischen Herrn Justizrath Heckepfennig und Herrn Nachtwächter Rüterbusch zu einem befriedigenden Ende gekommen war, saß ich hinter einem dieser vergitterten Fenster.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 212-230.
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