Achtzehntes Capitel

[188] Die Dienstwohnung des Gymnasialdirectors Doctor Moritz Clemens prangt heute Abend in ungewöhnlichem Glanz. Nicht nur sind in der »guten Stube« und in der Wohnstube die Ueberzüge von sämmtlichen Sophas, Sophakissen und Stühlen entfernt und über die enthüllte Pracht herrlichster Stickereien das verschwenderische Licht zweier Lampen und eines halben Dutzend Stearinkerzen ausgegossen; auch das Studirzimmer des Directors auf der einen und das Wohn- und Schlafgemach der beiden Töchter auf der anderen Seite sind durch Wegräumung des Arbeitstisches hier und der Betten dort in Salons umgeschaffen und ebenfalls mit je einer Lampe und drei Kerzen erleuchtet worden. Durch sämmtliche Räume wallt der aromatische Duft des Räucherpulvers.

Ich dächte, unsere lieben Gäste ließen etwas lange auf sich warten, sagt Director Clemens, zum zwölften Male seit den letzten zwölf Minuten nach seiner Uhr sehend, während er in nervöser Erregung im Zimmer auf und ab wandelt.

Ich begreife auch nicht, wo die Leutchen bleiben, sagt Frau Director Clemens, sich für einen Augenblick auf dem Sopha niederlassend und sich die erhitzte Stirn mit dem Taschentuche trocknend, ich hatte Doctor Stein noch ausdrücklich gebeten, ja vor sieben hier zu sein, weil ich seine Rolle noch mit ihm durchgehen wollte.

Wird er denn den Hauptmann lesen können? meint Fräulein Thusnelde Clemens, vor dem Spiegel ihren Kopfputz in Ordnung bringend.

Du denkst, Dein Wimmer kann ganz allein gut lesen, ruft Fräulein Fredegunde Clemens aus dem Nebenzimmer her, wo sie ebenfalls vor dem Spiegel noch mit Ihrer Toilette beschäftigt ist.

Mindestens lies't er so gut, wie Breitfuß, erwidert Fräulein Thusnelde in gereiztem Ton.[188]

Aber Kinder, Ihr werdet Euch doch nicht noch gar zanken, sagt die Mutter beschwichtigend.

Fredegunde kann das Necken nicht lassen, sagt Thusnelde.

Und Du willst immer oben hinaus! ruft Fredegunde, in der Thür erscheinend.

Um Gotteswillen, Kinder, ich bitte Euch, seid still, flüstert Doctor Clemens mit ängstlicher Stimme, die Hände wie flehend erhebend: ich höre Jemand auf dem Vorsaal.

In der That wird in diesem Augenblick von dem Dienstmädchen die Thür geöffnet, und herein schreiten: Herr Professor Snellius, Frau Snellius und Fräulein Ida Snellius.

Der gestörte Familienfriede der Familie Clemens ist sofort wieder hergestellt. Man begrüßt die Eintretenden so herzlich wie möglich.

Die lange Begrüßung zwischen den Familien Clemens und Snellius ist noch nicht zu Ende, als sich abermals die Thür öffnet, um den Doctor Kübel nebst Frau und Tochter einzulassen. Ihnen folgen die Herren Doctoren Wimmer und Breitfuß.

Da wäre ja unser Kränzchen nun wohl beisammen, sagt Director Clemens, sich sanft die Hände reibend und die Stimme mäßig erhebend, und nur unsere lieben Gäste fehlen noch.

Unsere Gäste, liebster Collega? sagt Professor Snellius, ich denke, es handelt sich nur um den Singularis von hospes.

Minime! ruft der Director, ich habe Ihnen, meine Damen und Herren, heute Abend einen Dualis, ja sogar einen Pluralis von Ueberraschungen zugedacht. Es werden außer unserem neuen Collegen Stein noch zwei Gäste kommen, von denen ich mir für unseren geselligen Kreis sehr viel verspreche. Rathen Sie, wer?

Aber, Moritz, es sollte ja eine Ueberraschung sein, sagt Frau Clemens in vorwurfsvollem Ton.

Ich glaubte, Liebe, es ist besser, wir bereiten das Kränzchen[189] darauf vor. Ist es doch unser Wunsch, die Betreffenden nicht blos für einen Abend als Gäste zu haben, sondern sie dauernd für unser Kränzchen zu gewinnen, und müssen wir doch zu diesem Zweck nach den Statuten, die Du selbst entworfen hast, die Einwilligung sämmtlicher Betheiligten haben.

Wer ist es, Herr Director? fragt Doctor Wimmer. Sie spannen uns auf die Folter.

Ein Herr, dessen Name in der Gelehrtenrepublik einen guten Klang hat, und eine Dame, die für Sie, als lyrischer Dichter, von ganz besonderem Interesse sein wird, College Wimmer.

Eine Dame? ruft Herr Wimmer, indem er sich mit der Hand durch sein sorgsam gepflegtes reiches Haar fährt, für welche unzeitige Regung der Eitelkeit er durch einen strafenden Blick der Dame, deren Locke er auf dem Herzen trägt, gestraft wird.

Ja, eine Dame, College, ein hochbegabtes, lyrisches Talent.

Ohne Zweifel Primula; ich meine Frau Professor Jäger; ruft Herr Wimmer.

Richtig gerathen, die Dichterin der Kornblumen und der Interpret der Fragmente des Chrysophilos, werden heute Abend eine Gastvorstellung geben, die hoffentlich zu einem dauernden Engagement führen wird, sagt Herr Director Clemens mit seinem sanftesten Lächeln.

Ein erstauntes, langgezogenes Ah! bezeugt das Interesse, welches die Gesellschaft an dieser Nachricht nimmt.

Ich hatte auch noch einen andern Grund, Jägers gerade heute zu bitten, fährt der Director fort, es war, wenn Sie wollen, eine Rücksicht der Humanität gegen unsern neuen Collegen Stein. Er ist ganz fremd in unserm Kreis und scheint überdies scheu, befangen und wenig gewohnt, sich in größeren Cirkeln zu bewegen. Nun aber sind, wie er mir selbst heute Morgen sagte, Jägers specielle Bekannte von ihm aus früherer Zeit – aus der Zeit seines Hauslehrerlebens – und er wird sich ohne Zweifel freuen, an diesem Abend unter so[190] viel halb oder ganz fremden Gesichtern auch einigen Bekannten zu begegnen.

Diese zarte Rücksicht ehrt Sie, Collega, sagt Professor Snellius, dem Director die Hand drückend, wobei der elegische Zug um seine Nasenflügel deutlich hervortritt.

Aber ich denke, Frau Director, die Rollen sind alle vertheilt, sagt Doctor Wimmer, der den »Max« hat und jeder Veränderung umsomehr entgegen ist, als seine geliebte Thusnelde, die »Thekla« lies't und er auf die Einstudirung seiner Rolle vier Wochen angestrengtesten Studiums verwandt hat.

Ich habe Doctor Stein den Hauptmann gegeben, der noch nicht besetzt war, sagt Frau Director Clemens in dem Tone Jemandes, der keinen Widerspruch gewohnt ist und keinen Widerspruch duldet. Das ist eine hübsche kleine Rolle und er kann darin zeigen, ob er zu lesen versteht oder nicht. Ich hätte sie freilich gern einmal vorher mit ihm durchgelesen, aber er mag nun sehen, wie er fertig wird. Was Jägers betrifft, so habe ich ihnen den Deveroux und Macdonald, die ebenfalls noch unbesetzt waren, zuertheilt.

Aber, verehrte Frau Director, meint Doctor Kübel, sollten diese Rollen für unsere Debütanten wohl ganz geeignet sein?

Weshalb nicht, lieber Doctor? fragt die Frau Director mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln.

Ich meine nur, weil es ihnen gerade nicht besonders lieb sein dürfte, sich bei uns gleich das erste Mal als Mörder zu introduciren? ruft Doctor Kübel.

Frau Director, deren Stirn sich bei diesen Worten des scherzhaften Collegen in noch tiefere Falten gelegt hat, will etwas erwidern, vermag es aber nicht, da sich in diesem Augenblick die Thür öffnet, um Herrn und Frau Professor Jäger in's Zimmer zu lassen.

Ah, mein würdiger Freund! ruft Professor Jäger, nachdem er Clemens und Snellius begrüßt, dem Doctor Kübel, bei dem er selbst noch Unterricht gehabt hat, mit Wärme die fetten, weißen Hände drückend; wie freue ich mich doch, mein[191] hochverehrter Lehrer, Sie in so herrlichem Wohlsein anzutreffen! Wahrhaftig, man möchte von Ihnen, wie Wallenstein von sich selbst sagen; daß über Ihrem braunen Scheitelhaar die schnellen Jahre machtlos hingezogen. Ja, ja: mens sana in corpore sano – das habe ich in jener Zeit von Ihnen gelernt; aber Sie haben selbst geübt, was Sie lehrten. – Herr Doctor Wimmer, ich freue mich ausnehmend, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen; Sie sind mir und meiner Frau durch ihre reizenden »Maiglöckchen« schon lange lieb und werth. Erlauben Sie, daß ich Sie meiner Gustava vorstelle; ich möchte die Kornblumen und die Maiglöckchen gern zu einem Strauß vereinigt sehen! Herr Doctor Breitfuß, ich bin glücklich, einem jungen Gelehrten von Ihren Verdiensten zu begegnen. Ihre herrlichen Monographien über Origines und Eusebius haben mir bei Abfassung meiner »Fragmente« die wesentlichsten Dienste geleistet. Ich bin entzückt, meinen Dank jetzt endlich persönlich abtragen zu können.

Während so Professor Jäger im Kreise der Herren sich schlangengleich von einem zum andern windet, durchflattert Primula sylphenhaft den Cirkel der Damen. Sie sagt den älteren Damen ein verbindliches Wort; sie beneidet Thusnelde und Fredegunde Clemens um ihre »reizenden, tiefpoetischen« Namen; sie gratulirt Ida Snellius zu ihren Fortschritten im Portugiesischen und klopft Marie Kübel auf die erröthenden Wangen und nennt sie ein liebes, gutes Kind.

Aber der College bleibt auch wirklich ein wenig gar zu lange, sagt Director Clemens, nach der Uhr sehend; ich dächte, Auguste, Du ließest den Thee serviren.

Wen erwarten Sie noch, Werthgeschätzter? fragt Pastor Jäger den Director.

Wessen Fuß trat noch über diese Schwelle nicht? fragt Primula die Directorin.

In demselben Moment, wo die beiden Angeredeten den Mund zu einer Antwort öffnen, öffnet sich auch die Thüre und Oswalds hohe Gestalt erscheint in dem Rahmen derselben.[192]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 188-193.
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