[552] Eine Stunde später war in dem Kampf an der Barricade der Langen Straße eine Pause eingetreten. Das Linienregiment, welches nun schon fünfmal vergeblich gestürmt, war durch einige Bataillone Garde verstärkt worden, die bis jetzt in der Fürstenstraße gekämpft und schon mehrere Barricaden genommen hatten. Die Taktik dieser Truppen bestand darin, daß sie nicht in ganzen Colonnen, sondern in aufgelösten Schützenzügen rechts und links an den Häusern der Straße so gedeckt wie möglich vorgingen, um sich dicht vor der Barricade zu einer Sturmcolonne zu vereinigen. Aber wenn so ihre Verluste weniger bedeutend waren, konnten sie sich doch auch keiner bessern Erfolge rühmen. Die Belagerten sparten ihr Feuer so systematisch und gaben in dem rechten Augenblicke ihre Salven, die noch dazu seit der letzten Stunde viel kräftiger geworden waren, so kaltblütig ab, daß ihre Position geradezu uneinnehmbar schien. Wirklich hatte seit einigen Minuten das Feuern von Seiten des Militairs aufgehört, und die Barricadenmänner konnten sich ein wenig von ihrer blutigen Arbeit verschnaufen.
Es that ihnen wahrlich Noth. Zum größeren Theil auf das Aeußerste erschöpft, pulvergeschwärzt, fast Alle leichter oder schwerer verwundet, saßen und lagen sie einzeln und in Gruppen umher, wunderlich beleuchtet von dem rothen Lichte der Wachtfeuer, welche man mitten auf der Straße entzündet hatte, dem weißen Schein der Kerzen in den Fenstern und den milden Strahlen des Vollmondes, der noch immer groß und still oben in den blauen Aether schwamm. Zwischen den Gruppen der Kämpfer sah man Frauen und Mädchen, die ihnen aus den Küchen der Nachbarhäuser Lebensmittel zutrugen. Auch an Wein und Bier fehlte es nicht, und hier und da hatten die Leute des Guten zu viel gethan. Aus einer oder der andern Gruppe erschallte von Zeit zu Zeit rohes Jauchzen, Johlen und Schreien, das aber meistens bald einer Stille Platz machte, die nach solchem Ausbruch doppelt unheimlich war.[552]
Auf einer der Barricade eingefügten Tonne saß Oldenburg. Er ließ die langen Beine herabhangen und blies mächtige Dampfwolken aus seiner Cigarre. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß, wenn die Barricade übergehen sollte, er an der Spitze der Männer, die er in den Kampf geführt, fallen würde; aber daran dachte er am wenigsten. Der Tod für die Sache der Freiheit war ihm nicht fürchterlich, ja er glaubte etwas wie eine leise Todessehnsucht in seinem Herzen zu verspüren. Schien doch die süße, fest gehegte Hoffnung, Melitta bald die Seine nennen zu dürfen, seit den letzten Tagen weiter als je hinausgerückt. Er konnte sie nicht tadeln, daß die Erinnerung ihres Verhältnisses mit Oswald wie ein Alp auf ihrer Seele lastete, und es ihr unmöglich machte, die Augen muthig zu dem besseren und treueren Manne aufzuschlagen; aber gerade weil er das Gefühl, das sie trennte, ehren mußte, stand er rathlos und hoffnungslos da. Er hatte sich oft das Wort wiederholt, das Melitta, wenn sie ihn traurig sah, so rührend zu sprechen wußte, das Wort Geduld! – aber vergebens er verzehrte sich in der Ungeduld, für sein Glück nichts thun zu können, als müßig die Hände in den Schooß zu legen und auf ein unbestimmtes Etwas mit gläubiger Seele zu harren.
Da brach die Revolution aus, und Oldenburg athmete auf, wie Tausende mit ihm. Hatte doch Jeder eine unerträgliche Last getragen, die er jetzt loszuwerden hoffte! Es war Oldenburg lieb, daß Melitta nicht zugegen war. Er hatte ihr gleich beim Beginn des Barricadenbaues durch den alten Baumann Kunde sagen lassen, und daß er sie dringend bitte, an dem sichern Orte, wo sie sei, zu bleiben. Er dachte bei sich, als er den alten Mann entsandte: wir sehen uns entweder nie oder glücklicher als vorher wieder; jetzt müßte nur noch Oswald da sein und an meiner Seite für die Freiheit und Melitta kämpfen. Der Ausgang sollte mir ein Gottesurtheil sein und Melitta dem Ueberlebenden den Kranz des Siegers reichen.
Und sein Wunsch ging in Erfüllung. Seit einer Stunde kämpfte Oswald an seiner Seite, kämpfte, wie Jemand, dem[553] der Tod lieber ist, als das Leben. Wo es eine unter den feindlichen Kugeln schadhaft gewordene Stelle der Barricade auszubessern, oder sonst etwas Gefährliches zu thun gab, da war Oswald sicher zu finden, und da Oldenburg gerade die bedenklichsten Posten für sich selbst in Anspruch nahm, so kamen sie sehr oft dicht nebeneinander zu stehen. Aber sobald die Gefahr vorüber, zog sich Oswald sofort zurück, und Oldenburg folgte ihm nicht, da die Absicht, ihm auszuweichen, zu augenscheinlich war. Und doch drängte es den edlen Mann, in dieser Stunde, die vielleicht für Beide die letzte werden konnte, dem ehemaligen Freunde zu sagen, daß sie, was auch geschehen war, vergessen und sich die Hände reichen wollten, die so tapfer für eine große und gute Sache zu streiten wußten.
Seine Blicke hafteten jetzt auf Oswald, der in einiger Entfernung von ihm, die Büchse in der Hand, mit Berger neben einem der Wachtfeuer stand. In der wechselnden Beleuchtung traten die Gestalten bald in ein helles Licht, bald flog ein schwarzer Schatten über sie hin. Das gab ihnen etwas Seltsames, Ueberirdisches. Oldenburg mußte an die Schemen denken, die an den Ufern des Acheron dem Fährmann winken.
Er erhob sich und trat auf die Beiden zu.
Nun, Ihr Herren, sagte er, werden wir uns dieser Ruhe lange erfreuen?
Ich glaube nicht, erwiederte Oswald; sie haben sich entweder nur momentan verschossen, oder sie ziehen noch Verstärkungen heran.
Das Letztere ist wohl das Wahrscheinlichere. Was meinen Sie, Berger?
Berger hatte, die Arme über der Brust gekreuzt und mit den großen Augen unverwandt in die Flamme sehend, dagestanden. Plötzlich streckte er die Hände vor sich hin und sagte in einem hohlen geisterhaften Ton:
Horch! sie kommen! Die Erde zittert unter ihnen. Wie sie die Gäule peitschen, die es müde sind, immer neue Gewaltsmittel gegen das arme Volk herbeizuschleppen! Da springen[554] sie herab. Und nun stopft nur die ehernen Schlünde voll bis zum Bersten, wir wollen –
Berger! sagte Oldenburg, ihm die Hand auf den Arm legend.
Berger zuckte zusammen, wie Jemand, der jäh aus einem tiefen Traume geweckt wird. Er blickte verstört umher.
Was giebt's? fragte er, Oldenburg anstarrend.
Sie sind durch die übermäßigen Anstrengungen erschöpft, Berger, legen Sie sich eine Stunde hin. Ich will Sie rufen lassen, wenn es Noth thut.
Erschöpft, sagte Berger, indem er wieder in seinen träumerischen Zustand zurückfiel; ja wohl erschöpft, bis zum Tode erschöpft; aber deshalb genügt auch eine Stunde nicht. Wenn ich schlafen soll, so sei es wenigstens den ewigen Schlaf!
In diesem Augenblick trat Schmenckel, der die Wache auf der Barricade gehabt hatte, an die Gruppe heran und sagte:
Es ist halt etwas Besonderes im Werk; ich glaube es geht jetzt mit Kanonen los.
Berger fuhr in die Höhe.
Sagte ich es nicht? rief er, die Stunde der Entscheidung naht. Auf, auf, Ihr wackern Männer, allesammt! Noch einen lustigen Tanz mit den schlangenhaarigen Furien des Lebens und dann zur ewigen Ruh' in die kühle Todesnacht. Auf! auf!
Bei diesem Ruf sprangen Einige der Kämpfer empor von ihren Lagerstellen am Feuer, griffen zu den Waffen und eilten Berger nach an ihre Posten. Andere blieben liegen und lachten über den tollen Alten und den blinden Lärm. Aber auch sie waren rasch genug auf den Beinen, als jetzt ein Schlag, der die Häuser in ihren Grundvesten erbeben machte, losschmetterte und Kartätschenkugeln in die Barricade gegen die Häuserwände prasselten.
Jetzt wird es Ernst, sagte Oldenburg, sich zu Oswald wendend. Aber der Platz, wo Oswald gestanden hatte, war leer.[555]
Er weicht mir aus, sprach Oldenburg traurig; und doch, mein Gewissen ist rein; ich habe mir nichts gegen ihn vorzuwerfen.
Er eilte nach der Barricade, wo jetzt die Anwesenheit des Hauptmanns nöthiger war als je.
Zu der einen Kanone, die den Reigen eröffnete, hatten sich noch drei andere gesellt, und beinahe ununterbrochen krachte der Donner und rasselte der eiserne Hagel gegen die Barricade. Es war kein Zweifel: man wollte Bresche legen und dann den Sturm mit voraussichtlich besserem Erfolge wiederholen. Oldenburg, der das Leben der Leute nicht unnütz auf's Spiel setzen wollte, hatte Befehl gegeben, so gedeckt wie nur möglich sich aufzustellen und das Feuer der Belagerer nicht zu erwidern, sondern jeden Schuß bis zu dem Augenblick des Sturmes aufzusparen. Außerdem hatte er die Steinschleuderer auf den Dächern um das Doppelte verstärkt. Zuletzt wählte er die Männer, die sich bisher am muthigsten gezeigt hatten, zu einem Elitecorps aus, das sich dem stürmenden Feinde blindlings entgegenwerfen und kämpfen sollte, bis die Anderen Zeit gehabt hätten, sich hinter die Barricaden der Nebenstraße zu retten.
Oldenburg hatte kaum diese Anordnungen getroffen, als die Batterie mit noch fürchterlicherer Gewalt zu arbeiten begann und dann plötzlich verstummte.
Einen Augenblick tiefe Stille,
Tiefe Stille, und dann der eherne Klang von zwanzig Trommeln, die den Sturmmarsch schlagen. Und mit jedem Schlage rückt die Colonne näher heran – eine lebendige Mauer, scheinbar unaufhaltsam in ihrem Andrang.
Kein Laut erschallt auf der Barricade. Oben auf den Dächern stehen die Männer und Knaben, die schweren Steine in den Händen; in den Fenstern der Häuser, an den Schießscharten der Barricade selbst lauern die Schützen, die Büchse halb zur Wange schon erhoben.
Und mit dem Tacte der Trommeln rückt die lebendige Mauer heran. Deutlich schon sieht man die schmucken Gardeuniformen; man sieht die bartlosen Gesichter der Leute und[556] das schwarze, finstere, bärtige Antlitz des riesigen Officiers, der voranschreitet. Und jetzt ruft der Officier ein Commando, das die Trommeln verschlingen, und wie er mit dem blitzenden Degen winkt, rufen die Soldaten: Hurrah! hurrah! hurrah! und stürzen eilenden Laufs heran. Aber ehe sie die Barricade erreichen, krachen zwanzig Feuerschlünde, schmettern Hunderte von Steinen in die lebendige Mauer und sie schwankt und wankt wie eine Meereswoge, die mit vorüberhängendem Kamm gegen den Felsenstrand heranschäumt.
Doch rollt sie weiter und jetzt prallt sie gegen die Barricade. Der Officier reißt mit seinen Händen große Stücke heraus. Nichts scheint seiner Riesenstärke widerstehen zu können. Da springt ihm ein Mann im Sammtrock, der als Waffe den Lauf eines Gewehrs schwingt, von dem der Kolben abgebrochen ist, entgegen. Als der Officier den Mann erblickt, taumelt er wie vom Blitz getroffen zurück. Das bringt seine Leute in Verwirrung und hemmt für einen Moment ihr Anstürmen.
Die Barricadenmänner benutzen diese Pause und geben eine volle Salve. Der Officier fällt mit dem Gesicht vornüber todt zur Erde; mit ihm stürzt ein halbes Dutzend seiner Leute mehr oder weniger schwer verwundet. Ein fürchterlicher Schrecken bemächtigt sich der Soldaten. Vergebens suchen die Officiere sie in den Kampf zu treiben.
Die Barricade ist abermals gerettet; man schreit einmal über das andere Hurrah, man umarmt sich mit Thränen der Freude in den Augen. Aber der Sieg ist theuer erkauft. Während ein Theil der Besatzung die halb zerstörte Barricade wieder aufbaut, ist der andere Theil mit den Verwundeten und Todten beschäftigt. Der im Sammtrock trägt den Leichnam eines Mannes herbei, welcher in der ersten Reihe wie ein Held gefochten hat, und von den feindlichen Bajonneten durchbohrt, an ihrer Seite gefallen ist.
Oldenburg eilte herbei, ihnen zu helfen.
Ist er todt?
Ja.[557]
Sie legen ihn neben einem der Feuer hin auf die Erde. Das bleiche Antlitz ist so still, so voll Frieden, und um die blassen Lippen schwebt ein sanftes, seliges Lächeln.
Oldenburg schaut zu Oswald herüber, der an der andern Seite neben der Leiche kniet. Er erschrickt. Das Antlitz des jungen Mannes ist eben so bleich, wie des Todten Antlitz, und seine Augen stieren wie im Wahnsinn.
Mein Gott, Oswald, Sie sind verwundet?
Ich fürchte, ja, erwiedert Oswald und sinkt neben Bergers Leiche zusammen.
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