Viertes Capitel

[26] Es war etwa eine Stunde später. Der Abend war vollends herabgesunken. Die Berge von Fichtenau hatten sich in den doppelt dichten Schleier der Nacht und des Nebels gehüllt; vom dunkeln Himmel blinkten zwischen treibenden Wolken hier und da einzelne Sterne hervor. In den Straßen des Städtchens war es still geworden; aus den Fenstern der niedrigen Häuser schimmerten Lichter. Die Leute saßen nach dem frugalen Abendessen um das Ofenfeuer und erzählten einander von den Wundern der Stärke, Geschicklichkeit und Gewandtheit, deren Zeuge sie draußen auf der Finkenwiese gewesen waren, und von dem verrückten Herrn, der das hübsche Zigeunerkind, während es mit dem Teller umherging, vor allen Leuten umarmt hatte. – Die alte halbtaube Großmutter, die neben dem Ofen in ihrem Lehnstuhl nickte und die Geschichte nur halb gehört hatte, meinte: Ja, ja, Zigeuner sind Kinder des Satans, das weiß alle Welt. Mein Ur-Großvater selig hat noch ihrer fünf mit verbrennen helfen auf der Finkenwiese.

In der »Grünen Mütze«, einer Fuhrmannskneipe am Eingange in das Städtchen, nahe an der Finkenwiese, ging es heute Abend sehr lebhaft zu. Die »grüne Mütze« war das[26] Hauptquartier der wandern den Seiltänzerbande und mithin in diesen Tagen für das Fichtenauer Publikum ein anziehender Punkt.

Der lange Tisch in der tabaksraucherfüllten Trinkstube konnte heute die Zahl der Gäste nicht fassen, obgleich sie sich eng genug auf den Bänken zusammendrängten; besonders nach dem obersten Ende zu, wo die Künstler im vollen Gefühl ihrer Bedeutung und im Hochgenuß einer freien Zeche saßen und tranken. Der Director, Herr Caspar Schmenckel, präsidirte, wie sich's gebührte. Er hatte die Zipfelmütze abgesetzt und die große blaue Schürze sammt den hineingestopften Kissen bei Seite gethan, und erschien nun in der ebenso bequemen, wie eleganten Tracht eines Herrn, der Rock und Weste ausgezogen hat und sich über die mangelhafte Reinlichkeit seiner Wäsche im Bewußtsein seines Künstlerruhmes und seiner breiten gestickten Beinkleiderträger hinwegsetzt. – Eine größere Veränderung hatte Herr John Cotterby aus Aegypten, der seinem Herrn und Meister zur Rechten saß, mit seiner Toilette vornehmen müssen. Er trug jetzt einen grauen kurzen Rock mit grünen Aufschlägen und sah, Alles in Allem, einem hübschen Tyroler-Burschen, der er in Wirklichkeit war, ähnlicher als einem Sohne des geheimnißvollen Landes, welches der Nil durchströmt, wenn nicht der schmale Messingreif, der noch immer seine dunkeln Locken zusammenhielt, und das entsetzliche Deutsch, welches er höchst kunstreich radebrechte, seine mystische Abstammung hinreichend documentirt hätten. – Von den beiden andern Künstlern, die weiter unten am Tisch saßen, war der Eine ein bescheidener, stiller, langer Mensch, der es mit seiner Kunst ernst nahm und stets darüber grübelte, wie er in seiner berühmten Production »das tanzende Riesenfaß« noch einen neuen Zug anbringen könnte, der andere, der Clown der Gesellschaft, eine kugelrunde, possirliche Person, die jedesmal, wenn sie mit einem der Gäste anstieß, eine neue Fratze schnitt.

Der Vorfall heute Abend auf der Finkenwiese zwischen dem Reisenden und der Czika, über welchen sehr eifrig debattirt wurde, war zu merkwürdig, als daß ihn Herr Schmenckel nicht[27] in seiner Weise hätte ausbeuten sollen. Nun war freilich die Zigeunerin erst vor einigen Tagen, als er mit seiner Truppe durch die Berge von Braunburg nach Fichtenau zog, ganz zufällig mit ihrem Kinde zu ihm gestoßen, und Herr Schmenckel wußte von ihrer Vergangenheit so wenig wie irgend einer der Anwesenden; aber um so freieres Spiel hatte seine Phantasie bei der Erfindung eines Märchens, das sich den neugierigen Gästen aufheften ließ.

Ja, Ihr Herren, sagte Director Schmenckel, das ist eine geheimnißvolle Geschichte, und ich möchte sie wohl erzählen, wenn selbige nicht gar so sehr unglaublich wäre.

Erzählen Sie, erzählen Sie, Herr Director, schrie ein halbes Dutzend Stimmen.

Ein neues Seidel für den Herrn Director, ein anderes halbes Dutzend.

Darf ich erzählen, Cotterby? fragte Herr Schmenckel.

Fiderunkankinsavalilaloramei, antwortete der Aegypter, der keine Ahnung hatte, wozu sein Herr und Meister die erbetene Erlaubniß haben wollte.

Danke, Cotterby, sagte Herr Schmenckel; meine Herren! Ihr Wohl! – also wie ich die Bekanntschaft von Madame Xenobi, oder Kussuk Arnem, wie sie eigentlich heißt, gemacht habe. Aber die Geschichte ist fast unglaublich und spielt in gewisse Regionen hinein, die mich zwingen, nur in allgemeinen Andeutungen –

O, das thut nichts! – Erzählen Sie nur! riefen die Zuhörer, noch näher zusammenrückend.

Na, so hören Sie denn! – Kurze Zeit, nachdem ich Herrn Cotterby in Aegypten für meine Gesellschaft gewonnen, gab ich einige Vorstellungen in Konstantinopel auf dem Platze vor dem Palast des Sultans, der sich ganz ungemein für unsere Kunst interessirte und uns die Erlaubniß gegeben hatte, das Seil an der obersten Zinne des Palastes, auf dem flachen Dache selbst, zu befestigen. Nun müssen Sie wissen, daß in dem obersten Stockwerk dieses Palastes die Frauen des Sultans wohnen, weshalb man denselben auch Harem nennt. Ich hatte immer[28] gewaltiges Verlangen danach gehabt, einmal in einen solchen Harem, der sonst für Alle streng verschlossen ist, zu gelangen; und nun erst recht, nachdem mir Cotterby gesagt hatte, daß, wenn er an dem obersten Stock vorbeikäme, ihn immer die schönsten schwarzen Augen durch die Ritzen der Bretter, mit denen die Fenster des Harems vernagelt sind, anblitzten. – Was thue ich also? Ich sage zu Cotterby: Cotterby, sage ich, Sie können ja Alles, was Sie wollen. Wie wär's, wenn Sie mich morgen in die Karre nähmen und oben auf dem Dache absetzten? Ich muß einmal sehen, wie's da oben aussieht. Sie können mich morgen ja wieder auf demselben Wege zurückbringen. Wollen Sie? – Warum nicht? sagt Cotterby, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen thun kann. – Am nächsten Tage stecke ich mich in die Karre; Cotterby karrt mich auf das Dach, stülpt die Karre um, und, da bin ich denn oben auf dem Dach, ganz allein, denn Cotterby war, um kein Aufsehen zu erregen, sogleich wieder umgekehrt. – Nun mögen Sie mir glauben oder nicht, meine Herren; aber ich versichere Sie, daß mir in dieser Situation doch etwas wunderlich zu Muthe war. Wie leicht konnte aus den Dachluken der schwarze Kopf eines Wächters auftauchen – und dann wäre es um mein Leben geschehen gewesen. Indessen ich saß nun einmal in der Falle. Als ich noch so überlege, was ich nun beginnen soll, höre ich mit einem Male Säbelrasseln und Sporenklirren auf der Treppe, die zu dem Dache führt. Es war der Sultan selbst, der Herrn Cotterby von oben herab bewundern wollte. Ich, in meiner Herzensangst, laufe nach dem nächsten Schornstein, der aus dem Dach herausragt, krieche hinein und plumps! – zum Besinnen war keine Zeit – so eine zwanzig Fuß heruntergerutscht und wohin glauben die Herren? direct in den Kamin von der Schlafstube der Favoritin des Sultans. – Hier muß ich indessen die geehrten Herren um Verzeihung bitten, wenn ich, um die Ehre einer Dame nicht zu compromittiren, nur andeutungsweise so viel sage, daß die nächsten vierundzwanzig Stunden zu den schönsten gehören, die ich in meinem Leben gehabt habe, daß ich am folgenden Tage von Herrn Cotterby, der etwas der[29] Art geahnt haben mußte und eine noch größere Karre wie gewöhnlich mitgebracht hatte, auf die angegebene Weise abgeholt wurde, – daß wir noch in derselben Nacht Konstantinopel verließen und seit dieser Nacht meine Gesellschaft um eine vorzügliche Künstlerin reicher und der Palast des Sultans um seine schönste Blume ärmer war.

Herr Schmenckel sah sich triumphirend um. Er konnte mit dem Eindrucke, den seine Geschichte auf die in athemloser Spannung Horchenden hervorbrachte, zufrieden sein. – In diesem Augenblick kam die Dame, welche an der Kasse zu sitzen pflegte und überhaupt die inneren Angelegenheiten der Gesellschaft verwaltete, eilig in die Trinkstube gerannt und flüsterte Herrn Director Schmenckel etwas in's Ohr, wovon die Gesellschaft nur die Worte: braunes Weib – fortgelaufen – verstehen konnte. Des Directors Gesicht verfinsterte sich zusehendes. Er murmelte etwas von Teufel und Dreinschlagen und verließ den Tisch, ohne auch nur sein Seidel auszutrinken.

Die Nachricht aber, welche dem Director eben geworden, bestand in nichts Geringerem, als darin, daß die Zigeunerin sammt ihrem Kinde in ihrer Kammer, im ganzen Hause nicht zu finden sei. Mamsell Adele hatte diese Entdeckung gemacht, als sie die Beiden aus ihrer Kammer zum gemeinschaftlichen Mahle der Frauen der Gesellschaft, welches in einer anderen Kammer servirt war, holen wollte. Für Herrn Schmenckel war diese Nachricht ein Blitz aus heiterm Himmel. Die Flucht der Zigeunerin und ihres Kindes war ihm, was einem Menageriebesitzer der Tod seiner besten Löwin sammt ihren Jungen ist. Er verlor in den Beiden ein Kapital, das er für so gut wie nichts erworben und welches doch die reichsten Zinsen zu bringen versprach – den Schmuck, die Zierde, den Glanz, die Poesie seiner Gesellschaft. Selbst Herr John Cotterby aus Aegypten wäre leichter zu ersetzen gewesen als ein Genius mit so schönen Augen, mit so freundlich-ernstem Lächeln, das den filzigsten Spießbürger in einen leichtsinnigen Verschwender umwandelte. Herr Schmenckel gerieth in einen ganz unglaublichen Zorn, dessen erster Ausbruch sich natürlich gegen die Ueberbringerin[30] der Hiobspost wendete, um so mehr, als Herr Schmenckel das eifersüchtige Temperament dieser Dame aus langjährigem, vertrautem Umgang hinreichend kannte. Er beschuldigte sie in beleidigenden Ausdrücken, die Zigeunerin durch ihre Intriguen zur Flucht gezwungen zu haben. – Mamsell Adele antwortete in einem Tone, der ihre innere Erregung nur zu deutlich verrieth. Herr Schmenckel konnte, wenn er getrunken hatte, Widerspruch nur schwer vertragen, und Mamsell Adele fühlte kaum die schwere Hand des Meisters auf ihrer Wange, als sie so laut und schrill zu zetern begann, daß die Trinker drinnen von ihren Biergläsern in die Höhe fuhren und nach der Thür eilten, in der Meinung, es sei auf dem Flur ein Unglück geschehen.

Der Anblick so vieler ungebetener und unerwünschter Zeugen brachte den um die Ehre seiner Gesellschaft besorgten Director einigermaßen wieder zu sich und die Dame, welche ihre Ehre vor so vielen Männern compromittirt sah, vollends außer sich. Vorher hatte sie gedroht, den Director ihre Nägel fühlen zu lassen, jetzt fügte sie der Drohung die That hinzu.

Das Staunen des kunstsinnigen Publikums von Fichtenau, den gefeierten Künstler, den Helden so vieler Abenteuer in solcher Noth und Bedrängniß zu sehen, war außerordentlich. Einige wollten Frieden stiften, Andere lachten und hetzten, wieder Andere (Männer in blauen Blousen und Gamaschen, die regelmäßig mit Roß und Wagen in der »Grünen Mütze« einkehrten und die Seiltänzerwirthschaft, die sie in ihrem gewöhnlichen Comfort störte, mit mißgünstigem Auge betrachteten) sprachen laut von Lumpenpack und Hinauswerfen, was denn wieder von den Kunstenthusiasten äußerst mißliebig aufgenommen wurde. Zornige Gesichter, drohend erhobene Arme; schimpfende Stimmen hinüber und herüber; endlich ein Gewirr, in welchem selbst der Wirth der »Grünen Mütze«, der, die kurze Pfeife im Munde, in der Küchenthür lehnte, nichts Einzelnes mehr zu unterscheiden vermochte.[31]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 26-32.
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