Viertes Kapitel

[27] Klotilde hatte gefürchtet, sie würde mit dem Herrn Professor ein schauderhaft gelehrtes Gespräch zu führen haben, und sah sich aufs angenehmste überrascht, als ihr diese Pein durchaus erspart blieb. Nicht, daß von den Lippen des Herrn nicht hin und wieder eine Anspielung auf irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand, oder etwas, das ihr wenigstens so erschien, gekommen wäre! Aber immer doch nur eine Anspielung, die seiner Unterhaltung sogar einen gewissen originellen Reiz gab und ihr schmeichelte, da er doch jedenfalls annahm, daß sie für diese Winke nach höheren Regionen das volle Verständnis besaß. Im übrigen war, was er vorbrachte – und er brachte viel, sehr viel vor – er schien unerschöpflich – doch nur eine Plauderei, die ihr allerdings um einen beträchtlichen Grad geistreicher schien als die, an welche sie in ihrer Gesellschaft gewöhnt war. Zu der er, wollte sie ihn nur nach seinen Manieren und seinem Aeußeren beurteilen, am Ende auch gehörte. Einer eleganteren Toilette konnte sich keiner der Herren in Civil rühmen; Frack und Weste waren nach dem neuesten Schnitt, das feine Vorhemd von blendender Weiße, die Krawatte saß tadellos. War[27] ihr doch schon heute nachmittag in dem Pferdebahnwagen die Sorgfalt, mit der er sich kleidete, aufgefallen! Und jetzt in seiner unmittelbaren Nähe konnte sie sich überzeugen, daß sie auch sonst seine Erscheinung richtig taxiert hatte. Mit seinen regelmäßigen Zügen, der feingewölbten Stirn, den großen, ausdrucksvollen blauen Augen, dem prächtigen blonden Vollbart, der stattlichen, breitschulterigen, hochbrustigen Figur, mußte sie ihn wirklich für einen schönen Mann gelten lassen, trotzdem sie eigentlich an Blondins nicht leicht Geschmack fand, und in Fernau mit seinem blauschwarzen Haar und Bart und dem südlichen Oliventeint ihr Ideal sah. Das Einzige, was ihr an dem schönen Manne unangenehm auffiel, waren seine großen, knochigen, allzu roten Hände. In den Augen der Dame aus uralt freiherrlichem Geschlecht durfte ein Mann, den sie als ihresgleichen nehmen sollte, solche Hände nicht haben.

Las der Mann in ihren heimlichen Gedanken?

Sie waren auf die landwirtschaftlichen Reize der deutschen Mittelgebirge, zuletzt auf die des Harzes zu sprechen gekommen.

Aber Sie kennen den Harz wohl nicht? sagte sie, als sie bemerkte, daß er stiller geworden war und sie schließlich nur noch allein sprach.

Meine Heimat! erwiderte er mit einem melancholischen Lächeln.

Da wären wir ja Landsleute! rief Klotilde und nannte das Städtchen am Fuß eines der Ausläufer des Gebirges, in dessen Nähe das Stammgut ihrer Familie lag.

Ich bin in der Wahl meines Geburtsortes weniger vorsichtig gewesen, sagte er mit demselben trüben Ausdruck.[28] Es ist ein armseliges, hoch oben zwischen kahlen Bergen eingeklemmtes Dorf. Meine Eltern waren blutarme Bergleute. Der Vater wurde, als ich sechs Jahre zählte, in einem zusammenstürzenden Schacht verschüttet; meine Mutter starb ein Jahr darauf. Die Gemeinde, der ich zur Last gefallen war, machte mich zu ihrem Gänsejungen, von dem ich zum Schafhirten avancierte; und ich hätte es sicher bei meiner entschiedenen Veranlagung zu dem Berufe noch zum Kuhhirten gebracht, nur daß sich der alte, kinderlose Pastor unseres Dorfes meiner annahm. Er hatte in der Konfirmationsstunde Wohlgefallen an mir gefunden; glaubte ein zukünftiges Kirchenlicht entdeckt zu haben; ließ mich studieren, adoptierte mich später sogar und vermachte mir, als er starb, sein bißchen Hab und Gut. Nun, ich Undankbarer habe die Hoffnungen des guten Mannes nicht erfüllt; es nicht einmal über den Schafhirten hinausgebracht, als der sich so ein armseliger Schulmeister, wenn die Jungen einmal wieder durchaus nichts begreifen können, oft genug vorkommt.

Die kleine, in halb elegischem, halb satirischen Ton vorgetragene Geschichte, hatte einen starken Eindruck auf Klotilde gemacht; und während der Professor mit seinem Gegenüber, dem Hauptmann von Luckow, in ein Gespräch geraten war, hatte sie Muße, sich diesen Eindruck zurecht zu legen. Ein Gänsejunge da oben auf den Bergen, der es immerhin so weit bringt – das war doch einmal etwas anderes als das ewige Einerlei der Offizier- und Beamtencarriere; das war doch sehr interessant, sehr romantisch! Und wie hübsch von ihm, daß er sich frank und frei zu seiner plebejischen Herkunft bekannte, die[29] Leute der Art sonst nach Möglichkeit zu verschleiern suchen! Und je tiefer er geboren war, um so großartiger war es doch von ihr, wenn sie sich zu ihm herabließ! Adieu, plaisant pays de France! Maria Stuart und Rizzio! Gewiß war Rizzio auch ein armer Junge gewesen, der sich von den sonnigen Gassen irgend einer italienischen Stadt bis nach Schottland und in die königlichen Hallen und in das Herz der schönen Königin gesungen hatte. Mein Gott, so ein bißchen unschuldige Liebelei muß doch einer gelangweilten Königin erlaubt sein, wenn auch Graf Boswell-Fernau drüben am dritten Tische fortwährend wütende Blicke herüberschleudert. Das macht die Geschichte nur pikanter. Welche denn? Eine Episode, die ein paar Abendstunden währt und dann definitiv zu Ende geht, ist doch noch lange keine Geschichte, wie sie das Verhältnis mit Fernau allerdings bereits zu werden drohte. Hier war nach keiner Seite auch nur die mindeste Gefahr.

Und während diese Gedanken durch ihr erregtes Gehirn zuckten, überlegte sie schon, wie es wohl aufzufangen sein möchte, daß die Episode keine Episode bliebe; wie der interessante Mann wohl in ihren Kreis einzuführen, in ihrem Kreise festzuhalten wäre. Viktor mit seiner hochmütigen Verachtung alles Plebejischen und aller Plebejer mußte schon aus der Rechnung fallen. Aber das wäre nicht das erste Mal gewesen! Adele! sie war so grundgutmütig und hing an ihrer Schleppe. Es würde ihr ein Leichtes sein, Adele für den Professor zu begeistern. Und Elimar – natürlich! Er war ein halber Gelehrter. Wie sollte der nicht Geschmack an ihm finden! Und Luckow da drüben, der eben in seiner Eigenschaft als[30] Lehrer an der Kadettenschule ihn seinen Kollegen nannte! Der Hauptmann war freilich Junggesell, aber, als Intimer des Kreises, immerhin ein Stein mehr im Brett. Hier im Hause erschien der Professor, so wie so, völlig akkreditiert. Die Sache würde sich machen, mußte sich machen. Sie hatte schon schwierigere Dinge siegreich zustande gebracht.

Da, in dem Moment, als der Professor sich aus der Unterhaltung mit Luckow wieder zu ihr wandte, wurde die Tafel aufgehoben. Bereits kamen die Excellenzen und andere Hochwürdenträger mit ihren Damen durch den Saal; die jüngeren Herrschaften standen nur noch an ihren Plätzen, jene vorüberzulassen und sich ihnen dann anzuschließen. Der Professor hatte ihr wieder den Arm gereicht. Ihre Hand zitterte jetzt nicht mehr; eine freudig sieghafte Empfindung füllte ihr Herz und ließ sie mit einem ihrer vollen Blicke, deren Gewalt über Männerherzen sie nun schon so oft erprobt hatte, zu ihrem Begleiter aufschauen und die Lider nicht senken vor dem Feuer der Bewunderung, das aus seinen großen Augen auf sie herabflammte.

Gott segne Sie, gnädige Frau, für die selige Stunde, die Sie einem Unglücklichen bereitet haben; sagte er so leise, daß nur eben sie es verstehen konnte.

Es war eben auch für mich eine liebe Stunde, gab sie ebenso leise zurück. Und Sie thun unrecht, mir die freundliche Erinnerung durch solche schmerzlichen Worte zu trüben.

Wenn ich das Glück hätte, näher von Ihnen gekannt zu sein, würden Sie in Ihrem schönen Herzen nicht mehr den Mut finden, mir den Titel eines Unglücklichen zu bestreiten.[31]

Es klang in dem Flüstertone so herzbeklemmend – Klotilde mußte nun doch die Wimpern niederschlagen, aber nur, weil sie fühlte, daß ihre Augen brannten, und fürchtete, sie könnte die unsägliche Thorheit begehen und in Thränen ausbrechen.

Ich bin positiv verrückt, sagte sie bei sich.

Man war in die Vorderzimmer gelangt. Er hatte sich mit einer tiefen Verbeugung von ihr verabschiedet und war alsbald in dem Gedränge verschwunden, das jetzt noch größer war als vor Tisch. In dem Lärm der durcheinander schwirrenden, weinlauten Stimmen konnte man das eigene Wort kaum noch verstehen. Klotilde kam es gelegen; sie war sich bewußt, zu den Herren, die sie umringten und alle zugleich auf sie einsprachen, ganz tolles Zeug zu reden. Denn urplötzlich hatte sie im stärksten Grade eine jener übermütigen Launen gepackt, die man an ihr kannte und in diesen Kreisen entzückend fand. In witzigen und neckischen Wendungen verteidigte sie gegen den Ansturm von einem halben Dutzend Aspiranten die beiden freien Tänze, die sie noch auf ihrer Karte hatte. Sie habe, während man diese Tänze tanze, eine hohe diplomatische Mission zu erfüllen; sie müsse unterdessen den Staat retten. Dabei war ihre freudige Hoffnung, die »Courschneiderei« bei Excellenz, zu der sie ihr Mann verpflichtet, werde nur ein paar Minuten dauern und sie so wenigstens einen Tanz für den Professor herausbringen, der ja unmittelbar vor dem Souper gekommen war, und sich sicher in diesem ihm fremden Kreise nicht engagiert hatte. Vorausgesetzt, daß er überhaupt tanzte. Aber warum sollte er nicht? Er tanzte sogar zweifellos vorzüglich.[32]

Ein lustiges Wort, das sie eben dem Hauptmann von Luckow erwidern wollte, erstarb ihr auf den Lippen. Sie sah den Professor auf sich zukommen mit einer Dame am Arm, die sie nicht kannte – einer kleinen untersetzten Dame, deren unmodische Frisur und einfache dunkle Toilette so gar nicht in diesen Kreis paßten, daß ihr erster Gedanke war: »wie um Himmelswillen kommt denn die hierher?« Zu einem zweiten Gedanken blieb ihr keine Zeit, denn jetzt war, während die anderen Herren etwas zurückwichen, der Professor an sie herangetreten und sagte, die Dame vom Arm lassend:

Ich wollte nicht aus der Gesellschaft scheiden, ohne der gnädigen Frau meine Frau vorgestellt zu haben.

Klotilde war aufs heftigste erschrocken; kaum daß sie die etwas linkische Verneigung der Frau Professor mit dem nötigen gesellschaftlichen Anstand erwidern konnte. Das Blut mußte ihr aus den Wangen geschwunden sein – sie fühlte es deutlich, und wie es im nächsten Moment gewaltsam zurückschoß. Dann aber hatte sie die angewohnte Selbstbeherrschung zurückgewonnen.

Aber wie unrecht, gnädige Frau, sagte sie mit einem Lächeln, das vielleicht noch etwas gewaltsam war; so spät kommen und die Gesellschaft dann, wenn ich Ihren Herrn Gemahl recht verstanden habe, so früh verlassen wollen!

Ich habe drei Kinder zu Haus, erwiderte die Dame, und das jüngste ist erst acht Wochen alt. Da hat man nicht viel Zeit für Gesellschaften übrig.

Nein, gewiß nicht, sagte Klotilde höflich.

Besonders wenn man selbst stillt, fügte die Dame hinzu.[33]

Dann besonders nicht, sagte Klotilde.

Ihr Blick hatte unwillkürlich den Professor gestreift; sie hätte beinahe laut aufgelacht. Welch ein verlegen albernes Gesicht der Mann machte!

Er mochte es selber empfinden, denn er sagte mit hörbarer Ungeduld:

Wir dürfen die gnädige Frau der Gesellschaft nicht länger entziehen, liebe Klara. Gnädige Frau, meine gehorsamste Empfehlung.

Es hat mich sehr gefreut, sagte Klotilde, der Frau Professor die Hand reichend, während der Professor sich mit einem gnädigen Kpofnicken begnügen mußte. Dann hatte sie sich schnell zu den andern Herren gewandt, die sofort wieder herangetreten waren, die meisten mit lächelnden Mienen.

Um Himmelswillen, gnädige Frau, rief der Lieutenant von Sperber; wer war denn diese höchst eigentümliche Erscheinung?

Darüber kann ich genaue Auskunft geben, erwiderte anstatt Klotildes der Assessor von Visselbach. Mir ward die völlig unverdiente Ehre, die Dame zu Tisch zu führen. Bei Gott! nach zehn Minuten hätte ich glauben können, mich in einer Kleinkinderbewahranstalt zu befinden.

Schade! sagte der Hauptmann von Luckow. Der Professor ist wirklich ein sehr unterrichteter, sehr charmanter Mann. Habe ich nicht recht, gnädige Frau?

Klotilde brauchte nicht zu antworten: Viktor kam, sie zu seinem hohen Chef zu führen, der aufbrechen wollte. Es war keine Minute zu verlieren.

Sie hätte nicht sagen können, was sie dann mit seiner Excellenz gesprochen. Aber sie mußte wohl das Rechte[34] getroffen haben; Excellenz waren die Liebenswürdigkeit und Güte selbst gewesen; Viktor, der in decenter Nähe dabei gestanden, hatte wiederholt zufrieden gelächelt und sagte, als die Unterredung zu Ende war, ihren Arm in den seinen nehmend und ordentlich zärtlich drückend: Das hast Du einmal wieder superb gedeichselt, Klotilde! In so etwas ist Dir doch keine über. – Und in allem andern auch nicht, hatte er mit schneller Höflichkeit hinzugefügt.

Frau Ministerial-Direktor war gewohnt, daß man ihre Gesellschaften reizend fand. So oft wie an diesem Abend war es ihr noch nicht gesagt worden. Es war nur eine Stimme darüber. Und ebenso über das zweite, daß die Königin des Festes die entzückende Frau von Sorbitz sei. Einige wollten freilich die Fahne der neuesten Acquisition aufwerfen; aber wenn auch jetzt noch »die Oase« nicht nur gelten ließ, sondern sie »ganz charmant« fand, und daß sie »ein fideler Kamerad« und ein »höllisch netter Käfer« sei, – gegen ihre prachtvolle Cousine komme sie doch nicht auf, und sie ihr gar vorziehen wollen, sei »einfach lachhaft«.

Er wurde für Klotilde in ihrem an Triumphen derart nicht armen Leben der glänzendste, den sie bis jetzt gefeiert hatte. Unter der Menge der Bettler um eine Extratour kam es manchmal fast zu unliebsamen Scenen; in dem Blumenwalzer häuften sich die Bouquets um sie zu Bergen. Und mit vollen Zügen sog sie den berauschenden Duft dieser Huldigungen ein. Ihre großen, blaugrauen Augen strahlten, während um die halbgeöffneten feinen Lippen beständig ein Lächeln schwebte, das, wie zauberhaft immer, doch stolz, ja hochmütig war und sagen[35] zu wollen schien: dies alles kommt mir von rechtswegen zu! mir, eurer Königin!

Als die unermüdlichen Wirte ihre Intimen, die sie nach dem Balle noch zu einem Plauderstündchen beisammen behalten hatten, endlich entließen und Viktor mit Klotilden nach Hause fahren konnte, war es drei Uhr geworden. Viktor war über den Sieg seiner Gattin so entzückt, als hätte er ihn selbst erfochten. Mit leuchtenden Farben malte er sich ihre beiderseitige Zukunft aus.

Mit einer solchen Frau zur Seite, rief er, in einer Aufwallung von Stolz und Zärtlichkeit den Arm um ihre Schulter legend.

Und wenn man selbst so Hervorragendes leistet, sekundierte Klotilde gefällig.

Müßte es doch sonderbar zugehen –

Brächte man es nicht zum Minister.

Seit manchen Wochen war die Einigkeit zwischen den beiden Gatten nicht so groß gewesen.[36]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Zum Zeitvertreib. Leipzig 1897, S. 27-37.
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