Die Heimkehr des Richters

»Warten mit dem Aussteigen! Warten denn, bis der Zug hält!« »Dienstmann gefällig? Dienstmann?« So, das wäre jetzt also die Heimat, nach welcher man sich das Herz aus dem Leibe gesehnt hat! Dem Landjäger, der dort in der Halle lungert, würde mans auch nicht ansehen. Ich glaube gar, er gähnt. Heimat und Gähnen!

»Haben Sie noch Großgepäck?«

Ein Bahnhofplatz wie ein anderer; starre Häuser, hart und grau wie überall; nichts von Purpurschein und Goldschimmer. Waren denn eigentlich früher die Gassen auch so zugig und leer? Puh, diese Staubwolken! Und was für ein eiskalter Wind, anfangs September! Vor einem jedenfalls, Viktor, bist du in dieser steinernen Nüchternheit sicher: vor Liebesanfechtungen. O, keine Gefahr!

Allein der täppische Dienstmann mit seinem zudringlichen Geschwätz erlaubte keine Besinnung. »Würden Sie mir vielleicht eine große Gefälligkeit erweisen?« ersuchte ihn Viktor. »Dann gehen Sie, bitte, langsam, aber ja recht langsam, um diesen Pfeiler, und zählen Sie genau die Schritte. – Wieviel? Sechs? Gut, ich danke; und jetzt, wenn Sie einverstanden sind, ziehen wir weiter.« Da fiel dem Männlein vor Verblüffung der Unterkiefer herunter, daß er auf dem ganzen Wege kein Wort mehr hervorbrachte.

Kaum im Gasthof angekommen, verlangte Viktor das Adreßbuch. Wie heißt sie doch gleich, gegenwärtig, die Treulose, mit ihrem angeheirateten Namen? Wyß, glaube ich, Frau Direktor Wyß. Aber wovon Direktor? Es gibt Eisenbahn-, Bank-, Gas-, Zement-, Gummi-, alle möglichen und unmöglichen Direktoren. Nun, wir werdens ja gleich lesen. Richtig, da steht sie; natürlich[267] vorsichtig hinter ihrem Manne versteckt: Dr. Treugott Wyß, Professor, Direktor des städtischen Museums und der Kunstschule, Vorstand der kantonalen Bibliothek, Mitglied der Waisenhauskommission, Münstergasse 6.

Hu, wieviel Weisheit! was für ein Haufe voll Würden! Eigentümlich, ein Bankdirektor wäre mir fast lieber gewesen. Zwar also jedenfalls ein hochgebildeter Herr. Trotzdem – ich weiß nicht warum, es ist nicht meine Schuld –, ich kann mir diesen braven Ehefriedrich nicht anders als klein, unansehnlich und ein bißchen unbeholfen vorstellen, ich will nicht gerade sagen komisch.

Also morgen vormittag Münstergasse sechs. Gelt, schöne Dame, das sagt dir dein kleiner Finger auch nicht, daß morgen dein Richter naht? Und am folgenden Morgen zur Besuchsstunde machte er sich nach der Münstergasse auf den Weg.

Wie sie wohl meinen Anblick bestehen wird? Zweierlei ist möglich. Entweder sie erbleicht und wankt aus dem Zimmer, oder sie errötet, faßt sich, trotzt mir und sieht mir dreist ins Gesicht. In diesem Falle werde ich meinen Blick mit Erinnerung laden und sie zwingen, die Augen vor mir niederzuschlagen. Hernach wende ich mich zu ihm, dem Friedrich: »Hochgeehrter Herr, die rätselhafte Pantomime, die wir soeben vor Ihren erstaunten Augen aufgeführt haben, Ihre Frau und ich, verlangt eine Erklärung. Selbstverständlich bin ich bereit, sie Ihnen zu geben, halte es aber für ritterlicher, das Wort Ihrer Frau zu überlassen. Denn ob ich schon ihr Gläubiger bin, ihren Ankläger will ich nicht spielen. Von ihr also mögen Sie sich erzählen lassen, warum und wieso ich der rechtmäßige Eigentümer Ihrer Gattin bin und Sie, mein Herr, bloß mein Stellvertreter und getreuer Statthalter, dank meiner Erlaubnis. Entschlagen Sie sich indessen aller Besorgnisse; nachdem ich Sie stillschweigend als meinen[268] Ehestatthalter anerkannt, bin ich mir bewußt, die Anstandspflicht übernommen zu haben, Ihre Ehe, Ihren Frieden, Ihr Glück in keiner Weise zu stören. Ihr Herd ist mir heilig, und meine klare Aufgabe lautet, mich zu verneigen und zu verschwinden; Sie werden an mir, Herr Direktor, die Tugend der Unsichtbarkeit schätzen lernen. Wie ich denn auch zum ersten und zum letzten Male Ihre Schwelle übertreten habe; und wenn ich heute erschienen bin, so geschah das bloß, um einmal in meinem Leben, ein einziges Mal und nie wieder, Ihrer geehrten Frau Gemahlin ergebenst meinen Mangel an Hochachtung auszudrücken. Dort liegt sie, das fleischgewordene Schuldgeständnis. Das genügt mir. Falls es Ihnen nicht genügen sollte, so wohne ich da und da und stehe jederzeit vom Morgen bis zum Abend zu Ihrer Verfügung.« So ungefähr werde ich zu ihm sprechen. – Hausnummer vierzehn; da bin ich in Gedanken vorübergegangen. Rückwärts denn: Nummer zwölf, zehn; jetzt kommt es näher; acht – also das nächste Haus. Nicht übel, das Häuschen; wie reinlich, wie wohnlich mit den weißen Spitzenvorhängen und dem weit ausladenden Erker; wer würde ihm von außen die Falschheit ansehen, die es birgt? Einen Kanarienvogel hört man auch; und Kinderlachen. Ein Kind? Wie kommt ein Kind da hinein? sollte ich mich in der Hausnummer getäuscht haben? Nein, es ist richtig Nummer sechs. Nun, es können ja mehrere Familien in einem Hause wohnen.

Als er an der Tür den Namen Wyß las, begannen urplötzlich seine Pulse ein Wettrennen im Galopp – »Ruhig dort innen!« herrschte er, »Beklemmung geziemt ihr, nicht mir, dem Richter!« Zog die Klingel und eilte die Treppe hinauf, die Stufen überspringend.

Es tue ihr leid, flötete das Dienstmädchen mit süßlicher Miene, Herr und Frau Direktor wären ausgegangen.

Darob knirschte sein Unwille. Auf jeden Empfang war er gefaßt gewesen, nur nicht auf keinen. Überhaupt liebte er nicht,[269] wenn jemand, den er besuchen wollte, nicht zu Hause war. »Ausgegangen!« Die geht also am hellen, lichten Tage mit jenem aus?! Freilich, das Recht dazu hatte sie, allein es gibt nicht bloß ein Recht, es gibt auch eine Scham. »Hier meine Karte, und ich würde um drei Uhr nachmittag wieder vorsprechen.«

»Frau Direktor werden schwerlich heute nachmittag zu Hause sein«, wagte das Dienstmädchen.

»Sie wird zu Hause sein!« befahl er, kehrte sich und ging. Was für eine boshafte Person, dieses Dienstmädchen! Wie giftig sie das Wort ›Frau Direktor‹ betont hatte, beinahe höhnisch. Auf der Treppe begegnete ihm der Briefträger. »Eine Postkarte für Frau Direktor«, meldete er nach oben. Der auch! feiges Volk! Tatsachenknechte! Hätte ich sie geheiratet, so würden sie sie heute wahrscheinlich mit meinem Namen nennen.

Auf der Straße zog er die Uhr: »Halb zwölf; reicht zur Not gerade noch zu Frau Steinbach vor dem Mittagessen. Ein wenig weit zwar von der Münstergasse ins Rosental, allein wenn man ein bißchen auszieht ...« – und das trauliche Gärtchen mit den Astern im Herbstsonnenschein leuchtete ihm ins Gedächtnis. Rüstig machte er sich auf den Weg, glücklächelnd ob der Vorstellung, die Freundin wiederzusehen. Und je länger, desto rascher trieb ihn das Verlangen. Vor dem Gartentürchen jedoch stutzte er: »Natürlich wahrscheinlich ebenfalls nicht zu Hause, denn wenn das einmal anfängt, so geht es wie eine Seuche.« Doch nein, Wunder! ein Freudenruf erscholl oben aus dem Fenster, und freundschaftstrahlend eilte sie ihm entgegen, die Treppe herab. Wenig fehlte, so wären sie sich um den Hals gefallen. An beiden Händen zog sie ihn mit sich: »Sind Sies auch wirklich? – Und nun setzen Sie sich und erzählen Sie mir! Vor allem, lieber Freund, wie geht es Ihnen?«

»Wie soll ich das wissen?«

Laut auf lachte sie vor Vergnügen: »Daran erkenne ich Sie wieder! Also: reden Sie, sprechen Sie, einerlei was! Nur daß[270] man Ihre Stimme hört! Damit man auch ganz sicher weiß, Sie sind es leibhaftig, und es ist nicht etwa bloß ein schönes Märchen. Denn bei Ihnen, mein Herr, geht ja Phantasie und Wirklichkeit derart durcheinander, daß man sich nicht wundern würde, wenn Sie einem plötzlich wieder unter den Augen verschwänden.«

»Ein bißchen aus dem Geleise, der Gedankenzug« – scherzte er – »nicht ganz tadellos gekuppelt. Befehlen Sie übrigens, daß ich mich rundherum drehe, um Sie von meiner Leibhaftigkeit zu überzeugen?«

»Nein, geben Sie mir lieber noch einmal die Hand. – So! Nun halte ich Sie aber fest. – Nein, diese Überraschung! Wann sind Sie denn eigentlich angekommen?«

»Gestern abend. – Aber wissen Sie auch, daß Sie je länger, je jünger und hübscher werden? Und – natürlich, das fehlt nicht, immer mit dem erlesensten Geschmack gekleidet!«

»O lala! Schweigen Sie! Eine alte dreiunddreißigjährige Witwe! Und Sie – etwas kräftiger und männlicher, scheint mir, als vor vier Jahren; wie soll ich sagen – sicherer, mutiger!«

»Übermütig sogar, unternehmend, angriffslustig!«

»Möge es so bleiben. Dann darf man also bald etwas Großes, Schönes von Ihnen erwarten? Sie wissen, wie ich darauf zähle.«

»Ach Gott, was das betrifft« – seufzte er und sann sorgenvoll vor sich hin.

»Und wenn Sie noch so ein kummervolles Gesicht machen« – lachte sie – »so habe ich doch kein Mitleid mit Ihnen, nicht das mindeste. Vollendungswehen, Siegessorgen!«

Da summte vom Münster drüben die Mittagsglocke ihren tiefen Sang. »Wissen Sie was« – schmeichelte sie, während er sich erhob – »kommen Sie diesen Nachmittag zu einer Tasse Tee, ganz allein unter uns.«

Schon wollte er freudig zusagen, da erinnerte er sich: »Leider schon anderswo verpflichtet«, bedauerte er verstimmt.[271]

»Ei, sieh doch! Gestern abend erst angekommen und heute schon vergeben? Indessen, ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen.«

Ungern gestand er, doch gerade deshalb tat ers, denn er gestattete sich keine Feigheitchen. »Es ist kein Geheimnis« – sagte er – »für niemand, geschweige denn für Sie. Ich habe mich nämlich auf drei Uhr nachmittag bei Direktor Wyß angemeldet.«

Befremdet schaute sie ihn an: »Was in aller Welt haben Sie in dem demokratischen Tugendtempel verloren? Kennen Sie denn den Herrn Direktor?«

»Ihn nicht, hingegen sie.«

Jetzt verwandelte sich ihr Gesicht und nahm einen kalten Ausdruck an. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie, sich abwendend, »Sie haben sie vor vier Jahren einmal flüchtig an einem Kurorte getroffen. Ein oder zwei Tage, glaub ich.«

»Flüchtig!« – rief er empört – »flüchtig? Das sagen Sie, die Sie es doch besser wissen? ›Ein oder zwei Tage?‹, was heißt das: ›Tage?‹ Mißt man den Wert des Lebens mit dem Kalender? Ich denke, es gibt Stunden, die schwerer wiegen als dreißig Jahre der Gewöhnlichkeit; Stunden, die ewig leben, so gewiß wie irgendein Kunstwerk, gewisser sogar; denn der Künstler, der sie schuf, ist der heilige Weltgeist der Schönheit!«

»Was sie leider nicht davor schützt, zu vergehen und vergessen zu werden.«

»Ich kenne kein Vergessen, ich dulde keine Vergangenheit.«

»Sie mit Ihrer Phantasie nicht; dafür andere Leute; namentlich wenn die Gegenwart alle ihre Wünsche befriedigt. Glauben Sie wirklich, daß Frau Direktor Wyß Ihren Besuch erwartet oder ihn sonderlich vermissen würde, wenn er ausbliebe?«

»Das glaube ich allerdings nicht, bezwecke auch mit meinem Besuche keineswegs ihr Vergnügen.«

Frau Steinbach schwieg eine Weile, dann redete sie wie für[272] sich selber, doch laut und nachdrücklich: »Die schöne Theuda Neukomm ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot; zufrieden in glücklicher Ehe. Ein gebildeter, angesehener und hochachtungswerter Mann, den sie liebt und der ihre Liebe auch wert ist; ein reizendes Kind – (ein wahrer Engel von einem Buben, sage ich Ihnen; ein kecker, schwarzlockiger Trotzkopf wie seine Mutter; fängt sogar schon zu sprechen an. – Ja, machen Sie nur ein Gesicht, als ob Sie mit der Achsel zuckten. Ihnen mag das Nebensache sein, der Mutter aber nicht!) – dazu ein reicher Sippschaftssegen von Freunden und Verwandten, in denen ihre Wonne schwimmt; allen voran ihr Bruder Kurt, der Wundermensch, das große Genie, ihr Abgott.« Hier unterbrach sie sich und lächelte ein wenig vor sich hin. »Übrigens, da fällt mir eben ein, sie ist ja diesen Nachmittag gar nicht einmal zu Hause; sie fährt mit dem Gesangverein über Land.«

»Verzeihen Sie, sie wird zu Hause sein!«

»Ah, wenn Sie das so bestimmt wissen, so füge ich mich natürlich.« Dann plötzlich, ihn ernst anschauend: »Lieber Freund, sagen Sie mir aufrichtig, was wollen Sie von Frau Direktor Wyß?«

»Nichts!« schnitt er unwillig ab.

»Um so besser, sonst würden Sie einer empfindlichen Enttäuschung entgegengehen. – Also dann ein andermal. Wann immer Sie mögen. Bei mir, das wissen Sie ja, sind Sie jeden Tag, zu jeder Stunde willkommen.« – Und während sie ihn hinausgeleitete, sagte sie noch einmal nachdrücklich: »Die schöne Theuda ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot.«

Wie auffällig sie den Spruch vom abgeschnittenen Stück Brot wiederholt hatte! Sie wird doch nicht etwa glauben –? O nein, meine Teuerste, der Bräutigam der hehren Imago ist gegen eine Frau Direktor Wyß gefeit. – Also das ist jetzt ihr neuester Sport: Buben in die Welt zu setzen? Bitte, gnädige Frau, lassen Sie sich ja nicht etwa stören. Zwillinge, Drillinge, meinetwegen Zwölflinge, tun Sie ganz, als wenn ich nicht da wäre. – Doch halt,[273] daß ich antwortete, ich wollte nichts von ihr, war nicht genau; das müssen wir berichtigen. Und ließ ungesäumt durch den Aufzugsknirps Frau Steinbach einen Zettel zustellen: »Liebe Freundin, eine Berichtigung: Nicht ›nichts‹ will ich von ihr, sondern daß sie die Augen vor mir niederschlage, das will ich von ihr. Ihr getreuer Viktor.«


Im Speisesaal langweilten sich die Gäste längs den Wänden auf und ab; bald zum Fenster hinausstierend, bald zerstreuten Geistes die Bildertafeln betrachtend, bis das Mittagessen endlich käme.

Vor dem schwarz umränderten Kopfbilde eines Staatsmannes (der Name war natürlich unleserlich) blieb Viktor stehen. Ein kräftiges Gesicht; mit derben, markigen Zügen, wie nach dem Muster eines Holzschnittes geboren. Uneigennützigkeit und Zielbewußtsein im Ausdruck, feurige Überzeugungshaltung, blicklose Vereinsaugen, nicht gewohnt, Mann gegen Mann zu trotzen, sondern gegenstandslos über eine Menge zu gleiten. Des Mannes Kernspruch vermochte er zu buchstabieren: »Alles durch die Volksschule!« Ja, danach sah der gerade geschrobene Herr aus. Die Welt als eine Erziehungsanstalt aufgefaßt; Zweck des Lebens lernen, hernach lehren; keine Wahrheit, sie schmecke denn nach Weisheit, und keine Weisheit, oder sie röche nach Ermahnung. Das Unheil, das der angestiftet hätte, mit seinem wandtafeligen Überzeugungs-Viereck, wenn ihn das Schicksal statt in die unschädliche Abstimmungsschachtel an das Steuer der Weltgeschichte gestellt hätte!

Während er so mit dem Staatsmanne klugäugelte, hatte sich ihm unvermerkt ein Nebenmensch beigesellt, der über seine Schulter weg ebenfalls das Bild betrachtete. »Nicht wahr, ein prächtiger Charakterkopf?« urteilte der Unbekannte bewundernd. Andere Gäste sammelten sich herbei, wie die Fliegen um[274] ein Zuckerstück, und aus der Gruppe kam zum zweitenmal das ehrfürchtige Urteil: »Ein prächtiger Charakterkopf.« Er mußte wohl ein gewichtiger und volksbeliebter Herr gewesen sein, der Charakterkopf; denn das Gespräch blieb bei ihm hangen, nachdem man sich schon längst zu Tisch gesetzt hatte. Beiläufig verlautete auch sein Name – Neukomm. Halt, hast du gehört? Neukomm? So hatte ja auch sie geheißen. Vielleicht gar ein entfernter Verwandter von ihr?

»Hat er eigentlich Kinder hinterlassen?« munkelte eine Frage. »Zwei« – meldete die Antwort; »einen Sohn und eine Tochter. Mit dem Sohne ist nicht viel, er dichtet; die Tochter dagegen ist an den bekannten Herrn Direktor Wyß verheiratet. Ein Prachtweib, sag ich Euch; alles dreht sich auf der Straße nach ihr um. Groß, stolz, schwarz wie eine Südländerin (ihre Großmutter war eine Italienerin) und hitzig, potzteufel! Übrigens durch und durch brav und sittsam; kein Mensch kann ihr das mindeste nachsagen. Und eine überzeugungseifrige Patriotin wie ihr Vater selig.« – Der Charakterkopf ihr Vater! So wach doch auf, o meine Vernunft, und reg dich, denn daraus folgt ja eine ganze Menge wichtiger Betrachtungen. Nachlässig bewegte sich seine Vernunft, hob ein wenig den Kopf, dann legte sie sich gleichgültig wieder zur Ruhe, wie ein auf der Straße lagernder Hofhund, wenn der Milchmann vorübergeht. »Die Tatsache ist mir zu dumm«, erklärte sie.

Nach dem Essen erkundigte sich Viktor beim Oberkellner: »Wohin jetzt, um Zeitungen zu lesen?«

»Da gehen Sie am besten ins Café Scherz beim Bahnhof; jedes Kind kann Sie weisen.«


Im vollen Saale fand er noch ein Tischlein am Fenster mit zwei unbesetzten Plätzen. Leute gingen, Leute kamen, sahen sich um; doch niemand nahm ihm gegenüber Platz. »Hier wie[275] überall! Entschieden, Viktor, du hast nichts Einladendes, du bist nicht ›gemütlich‹. – Ein fröhlicher Gedanke: Wenn jetzt mitten unter all dem Volk mein getreuer Statthalter säße? warum auch nicht? Er wird sich doch wahrscheinlich auch seine Zeitungen gönnen. Etwa so einer wie der dort hinten, mit den flachsblonden Strähnen und der doppelten Brille im Schafsgesicht? Ein Adonis ist er gerade nicht, das könnte man mit dem besten Willen nicht behaupten; und mehr Geist, als zu einem Herrn Professor unbedingt nötig ist, scheint er auch nicht zu haben. Statthalter, Statthalter, wenn ich dir raten darf, verlaß dich nicht allzusehr auf deine Gelehrtheit, sonst tauft dich eines trüben Morgens deine schöne Juno, auf die du dir so viel einbildest, ›Doktor Überdruß‹. Eigentlich nach den Gesetzen der Schicklichkeit müßte man zu ihm hinüber und ihn ein wenig hänseln. Wenn ich nur ganz sicher wäre, daß ers ist! Nun, wir werdens ja bald erwähren. Zehn Minuten nach zwei Uhr; noch drei Viertelstunden. Wie die Zeit schleicht! – Ha! was für ein stattlicher Mann kommt jetzt hereinspaziert! Brr! Ein Held für Mädchenträume. Etwas zum ›sich ablehnen‹, zum ›sich emporranken‹, ›eine Stütze fürs Leben‹! Könnte ich singen, ich sänge: ›Er, der Herrlichste von allen!‹ Und Jupiterlocken hat er auch! An wen erinnert mich doch dieser minnesame Herkules? – Richtig, an den Herzkönig im Kartenspiel. – Wehe, ihr Jungfrauen, weinet! Schauet den Ehering! Sogar bereits Papa, denn so weltzufrieden schreitet bloß, wer Vatergefühle kennt. – Wie sorgsam er seinen Überrock faltet! und die feine, tadellose Wäsche, die jetzt zum Vorschein kommt! Was noch gar! Ich glaube wahrhaftig, er steuert zu mir. Willkommen, Herrlichster von allen!«

Mit einer höflichen Verbeugung ließ sich der Herzkönig nieder; darauf zog er eine Zigarrentasche hervor: »Darf ich mir vielleicht erlauben?« Dankend erwiderte Viktor: »Ich rauche nicht.« Aber hast du die kunstvoll gestickte Zigarrentasche gesehen? Jedenfalls von seiner Frau.[276]

Jetzt griff der Herzkönig – »Ist es gestattet?« – eine illustrierte Zeitung auf und schaute wohlwollend, fast gnädig hinein, mit halber Aufmerksamkeit; – dazu trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Was für gepflegte Fingernägel!

Dem Herzkönig schien jedoch nicht sonderlich ums Lesen zu tun; eher ums Plaudern; offenbar hatte ihm das Mittagessen geschmeckt. »Sie als Fremder« – begann er mit zögernder Einleitungsstimme die Unterhaltung, als sich die Kehllaute in ihrer Nähe kräftiger vernehmen ließen, »werden wohl auf unseren etwas rauhen Dialekt nicht besonders günstig zu sprechen sein?«

»Nicht Fremder«, berichtigte Viktor, kurz ablehnend, »hier geboren und aufgewachsen; bloß viele Jahre in der Fremde gewohnt.«

»Ah, um so besser; dann habe ich also das Vergnügen, einen Landsmann in Ihnen zu begrüßen.«

Hiernach hüllte er sich wieder hinter die Zeitschrift und begann vor sich hin zu schmunzeln. »Er lutscht an seinem Eheglück wie an einem Lakritzenstengel«, dachte Viktor.

Als der Lakritzenstengel zu Ende war, zeigte der Herzkönig auf ein Wertherbildnis in seiner Zeitung. »Was ist Ihre Ansicht«, hub er nach einigem Zaudern an, »glauben Sie, daß solch eine leidenschaftliche, schwärmerische Liebe heutzutage noch vorkommen könnte?«

»Natur kommt immer vor«, entgegnete Viktor.

Der Herzkönig schmunzelte. »Nicht übel. Es kommt eben alles darauf an, wie eng oder wie weit man den Begriff Natur faßt. Also Sie glauben allen Ernstes, in unserem realistischen Zeitalter –«

»Es gibt keine realistischen Zeitalter.«

»Wenn Sie so wollen, allerdings nicht. Immerhin, es gibt doch, das werden Sie zugeben, verschieden gestimmte Zeitalter; zum Beispiel solche, in welchen gewisse Seelenzustände, die früher beobachtet wurden, einfach undenkbar wären. Oder könnten[277] Sie sich zum Beispiel einen Johannes der Täufer, einen Franz von Assisi oder, um bei unserem Beispiel zu bleiben, einen Werther mit einem hohen, steifen Hemdenkragen vorstellen? – Verzeihen Sie, ich sagte das ohne die mindeste Anzüglichkeit. Nein, wirklich, ich bitte, glauben Sie mir, es war durchaus harmlos gemeint.«

Viktor begütigte lächelnd: »Ich mache keinen Anspruch auf den Titel eines Täufers oder eines Heiligen – ob jedoch der heilige Geist vom Heuschreckenessen komme oder die Ekstase vom Hemdenkragen abhange, möchte ich bezweifeln. Übrigens pflegte sich der Schöpfer des Werther, wenn ich nicht falsch berichtet bin, zierlich, sogar geziert zu kleiden.«

Und da nun eine längere Pause entstand, fuhr dem Viktor von der Seite ein Gedanke in den Kopf, den er je länger, je weniger los wurde. »Kennen Sie vielleicht« – wagte er endlich unvermittelt, mit banger Stimme – »kennen Sie vielleicht zufällig hier in der Stadt einen gewissen sogenannten Herrn Direktor Wyß?« – Kaum hatte er den Satz draußen, so spürte er, daß er heiß errötete.

Der Herzkönig schaute überrascht auf: »Gewiß; warum?«

»Was ist er für eine Spielart von Mensch? ich meine: wie sieht er aus? groß oder klein? jung oder alt? garstig oder angenehm? jedenfalls ein hochgebildeter Herr, nicht wahr? nach seinen Titeln und Ämtern zu schließen?«

Der Herzkönig zog ein überaus schlaues Gesicht und lächelte belustigt vor sich hin. »Nun, er hat wie jedermann seine zahlreichen Fehler; daneben vielleicht auch, wie ich mir wenigstens schmeichle, einige erträgliche Eigenschaften. – Doch erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle: Direktor Wyß ist mein Name.«

Das kam so anmutig, mit so liebenswürdiger Ironie heraus, daß Viktor, der nichts höher schätzte als Gefühlsfeinheit, jählings von Sympathie erfaßt aufsprang und ihm die Hand anbot,[278] welche der andere eifrig ergriff und schüttelte. Es entstand wie ein Freundschaftsbund zwischen den beiden.

Nachdem dann Viktor auch seinen Namen genannt hatte, rief der Direktor hocherfreut: »Da sind Sie also offenbar der Herr, der uns heute morgen die Ehre seines Besuches zugedacht hatte. Wir bedauern aufrichtig; besonders meine Frau, mit der Sie, glaub ich, wenn ich nicht irre, einmal in einem Meerbade zusammengetroffen sind.«

»Nicht in einem Meerbade«, verbesserte Viktor verstimmt, »sondern in einem Bergkurort.«

»Leider muß sie auch diesen Nachmittag auf das Vergnügen verzichten, da sie einen Ausflug mit den Damen des Gesangvereins verabredet hatte; ich komme soeben von der Eisenbahn. Hoffentlich lassen Sie sich indessen dadurch nicht abschrecken, und wenn Sie mirs nicht als eine Zudringlichkeit auslegen wollen, so möchte ich Ihnen vorschlagen, in die Idealia zu kommen; es braucht keinerlei Förmlichkeit; Sie erscheinen ganz einfach als von mir. Zudem ist ja meine Frau Ehrenpräsidentin.«

»Idealia?« –

»Ach so, ich vergaß, ich bin zerstreut – Sie können ja natürlich nicht wissen –.« Hiernach begann er, weit ausholend, von der Idealia zu erzählen: Eine Stiftung seines seligen Schwiegervaters – anspruchslose Zusammenkünfte ohne Zwang und Feierlichkeit – weder Kleiderprunk noch Schmauserei – nur zur Pflege einer etwas gehaltvolleren Geselligkeit, wo die Erhebung Hand in Hand mit der Erholung gehe (eines schließt ja das andere nicht aus), hauptsächlich die Musik empfehle sich zu solchem Zwecke – und dergleichen mehr, mit Aufzählung von Namen der Mitglieder und Daten der Zusammenkünfte und wie die Runde laufe; gewöhnlich Mittwoch, Freitag und Sonntag.

Aufmerksam hielt Viktor der Rede sein Ohr hin, mit dem Geiste dagegen schlich er am Gehör vorbei in die Augen: Das der Statthalter! der Herzkönig! der Herrlichste von allen! Und[279] er, der den Adonis für den Statthalter genommen hatte! Warum hatte er eigentlich vorausgesetzt, der Statthalter müsse ein komischer, mindestens unbeholfener Mensch sein? Oh, durchaus nicht komisch, der Herzkönig! durchaus nicht! – Und starrte ihn unverwandt verblüfft, fast erschrocken an. – Nun, so sei doch froh, Viktor! dient es doch auch deinem Stolze, wenn dein Statthalter eine gute Figur macht. Auch das finde ich völlig in der Ordnung, daß sie ihn offenbar liebt; oder habe ich denn jemals etwas anderes gewünscht? Bewahre; im Gegenteil; es müßte mich bekümmern, wenn es nicht so wäre. – Hingegen wieder sie! Diese Herausforderung! Mit einem Gesangverein über Land zu trudeln, nachdem ich meinen Besuch angekündigt! Ohne Frage, der Dame fehlt das Schamgefühl.

»Sie sind doch wahrscheinlich auch musikalisch?« tönte des Statthalters Stimme in seine Gedanken; »oder lieben wenigstens die Musik?«

»Ich glaube, ja; das heißt, ich weiß nicht recht, es kommt darauf an.«

Da schlug drüben vom Kirchturm die Stunde. »Drei Uhr!« entsetzte sich der Statthalter, erschrocken aufspringend – »ich habe mich verplaudert, ich muß schleunigst ins Museum. – Also, nicht wahr, ich zähle darauf, Sie in der Idealia begrüßen zu dürfen?« Reichte ihm hastig die Hand und sputete davon.


Viktor aber zog verstört durch die Gassen. Er mochte sich noch sooft vorsagen: »Viktor, sei froh«, es half nichts, er war gedrückt, niedergeschlagen, entmutigt.

Was war ihm denn Schlimmes widerfahren? Nicht das mindeste; und trotzdem war er eben niedergeschlagen. Bis er sich draußen vor der Stadt müde gelaufen hatte. Darauf, zu Hause, wie er die Glieder aufs Ruhbett streckte, wurde ihm wieder leichter. »Zur Gesundheit«, wünschte ihm sein Körper.[280]

»Danke, Konrad«, erwiderte er freundlich. Er pflegte nämlich, weil er mit ihm so gut auskam, seinen Körper kameradschaftlich Konrad zu nennen.

Nachdem er sich sattsam gedehnt hatte, bemerkte er auf dem Tisch ein Brieflein, welches, nach den Naturgesetzen zu schließen, vermutlich schon geraume Weile dort gelegen hatte. Von Frau Steinbach.

»Sie böser Mensch! Frau Direktor Wyß braucht vor niemand die Augen niederzuschlagen. Augenblicklich kommen Sie zu mir, damit ich Sie schelte.«

Gefaßt, in trotziger Stimmung, gehorchte er der Aufforderung.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie solch ein unangenehmer Mensch sein können!« – überfiel sie ihn – »Da! setzen Sie sich auf die Anklagebank, und lassen Sie sich verhören. Was haben Sie Frau Direktor Wyß vorzuwerfen?«

»Den Ehebruch.«

»Was heißt das, in vernünftige Sprache übersetzt?«

»Das heißt in vernünftiger Sprache – eine Übersetzung braucht es nicht –, daß sie die Ehe gebrochen hat.«

»Jetzt aber, mein Herr, muß ich ernst und scharf mit Ihnen reden; denn es geht um die Ehre einer unbescholtenen Frau. Ich rufe Ihre Wahrhaftigkeit an, der ich fest vertraue, und frage Sie auf Ihr Gewissen: Hat zwischen Ihnen und Theuda Neukomm ein Verlöbnis bestanden?«

Heftig wehrte er ab: »Wohin denken Sie!«

»Oder dann wenigstens etwas, was einem Verlöbnis gleichkam, was Sie zu der Annahme berechtigte – ein Liebesgeständnis? ein bindendes Wort oder Zeichen? ein Kuß? was weiß ich?«

Wiederum verwahrte er sich eifrig: »Nein, nein, nein! Sie sind auf ganz falscher Fährte; es wurden nur wenige und völlig bedeutungslose Worte gewechselt. Ich saß bei Tische neben ihr, wir taten zusammen ein paar Gänge durch den Garten, dann hat sie mir im Saal ein Lied vorgesungen. Weiter nichts.«[281]

»Dann also Briefe?«

»Warum nicht gar! Dazu war ich viel zu ehrfürchtig, auch zu gewissenhaft; sie wiederum zu vorsichtig. Frauen vergessen sich ja nicht schriftlich, das wissen Sie wohl.«

»Ja, was denn? Bitte helfen Sie meinem armen Verstande.«

Da verwandelte sich plötzlich sein Gesicht zu fremdem, tiefernstem Ausdruck, als ob er ein Gespenst erblickte. »Eine persönliche Zusammenkunft in der fernen Stadt« – bebte seine Stimme.

»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen rund widerspreche: Ich weiß das Gegenteil von Frau Direktor, und Frau Direktor Wyß lügt nicht.«

»Ich ebenfalls nicht! Wenn ich daher sage: ›eine persönliche Zusammenkunft‹, so meine ich natürlich keine körperliche.«

Unwillkürlich rückte sie mit dem Stuhle und starrte ihn an. »Keine körperliche? Sie werden doch hoffentlich nicht etwa – oder wie soll ich das verstehn?«

»Sie verstehen richtig, es handelt sich um eine Zusammenkunft von Seele zu Seele. – Beruhigen Sie sich; ich bin bei gesundem Verstande und gewahre die äußeren Dinge so scharf wie irgendein anderer. Warum machen Sie so ein ungläubiges Gesicht? Meinen Sie vielleicht, man sähe aus einem möblierten Hause minder deutlich als aus einem leeren? Wenn ich daher von einer Erscheinung rede –«

»Sie glauben an Erscheinungen?« – klagte sie.

»Wie jedermann, wie zum Beispiel auch Sie. Oder ein Traum, eine Erinnerung, der Nachglanz eines geliebten Antlitzes, das Aufleuchten einer Vision in der Seele eines Künstlers, sind das etwa keine Erscheinungen?«

»Bitte, keine sophistischen Kunststücklein! sprechen wir ernsthaft. Denn bei einer Erinnerung, bei einer künstlerischen Offenbarung bleibt man sich eben bewußt, daß es sich um ein bloßes Phantasiebild handelt.«[282]

»Dessen bleibe ich mir auch bewußt.«

»Gottlob, Sie heilen mich; ich atme auf Sie hatten sich nämlich vorhin so ausgedrückt, daß ich einen Augenblick meinte, Sie wollten ihrer sogenannten Erscheinung bestimmenden Einfluß auf Ihr wirkliches Leben, auf Ihre Handlungen einräumen.«

»Das tue ich auch in der Tat.«

»Nein, das tun Sie nicht!« rief sie verbieterisch, »das können Sie nicht tun!«

Er verbeugte sich – »Verzeihen Sie mir, daß ich mir erlaube, es doch zu tun.«

»Aber das ist ja Wahnsinn!« schrie sie auf.

Er lächelte: »Was soll Wahnsinn sein, bitte was? Daß ich innere Erlebnisse so hoch werte wie äußere? oder vielmehr unendlich höher? Oder daß ich mich von ihnen bestimmen lasse? – Und das Gewissen? und Gott? Ist es etwa auch Wahnsinn, wenn einer sich von seinem Gewissen oder von seinem Gott in seinen Handlungen beeinflussen läßt?«

Sie stutzte einen Augenblick, betroffen, um Antwort verlegen. Er aber fuhr fort: »Der einzige Unterschied ist der, daß die andern sich mit undeutlichen Erscheinungen begnügen, während ich sie klar sehen muß, wie der Maler Mariens Himmelfahrt. ›Finger Gottes‹, ›Auge Gottes‹, ›Stimme der Natur‹, ›Wink des Schicksals‹ – was tue ich mit diesem anatomischen Museum? Ich will immer das ganze Gesicht sehen.«

Mutlos seufzte sie: »Im spitzfindigen Denken sind Sie ja natürlich meinem schwachen Weibesgehirn hundertmal überlegen; auf dieses Gebiet will ich mich indessen gar nicht begeben. Ich kann nur noch bedauern und trauern.«

Da legte er die Hand auf ihre Schulter: »Edle Freundin, nicht wahr, Sie haben niemals begriffen, weshalb ich Ihren wohlgemeinten Wink, mir Theuda durch ein bindendes Verlöbnis zu sichern, unbeachtet ließ? Gestehen Sie, Sie waren und sind[283] der Ansicht, ich hätte mein Lebensglück albernerweise aus gemeiner Ehefeigheit verscherzt. Sehen Sie, Sie nicken.«

»Sagen wir Unentschlossenheit«, milderte sie.

»Nein, sagen wir Feigheit; denn Unentschlossenheit ist auch eine Feigheit: Willensfeigheit. Ich aber ertrage es nicht länger, vor Ihrem Urteil in unrichtigem Lichte dazustehen. Ich will Ihnen deshalb meine Gründe mitteilen. Sind Sie bereit zu hören?«

»Ich bin zu allem bereit«, flüsterte sie und senkte den Kopf, »obschon ich Ihnen nicht verhehle, daß mir dieses Thema peinlich ist, und daß ich nicht einsehe, was das Aufrühren veralteter Geschichten nützen soll. Indessen, wenn Sie wollen –«

»Nicht, wenn ich will« – verbesserte er – »sondern, wenn ich muß!« Und mit veränderter Stimme, in gehobenem Tone fing er an: »Nein, nicht aus feiger Unentschlossenheit, nicht aus alberner Torheit habe ich nicht zugegriffen, als leisen Schrittes das heilige Glück mir nahte, mich mit seinen klaren Augen anschauend und mir zuflüsternd: ›Nimm mich!‹, sondern wissend, was ich tat, wertend, was ich von mir wies, nach schwerer, reifer Wahl habe ich mit männlichem Entschluß entschieden. Und nun will ich Ihnen meine Entscheidungsstunde erzählen.«

Nach diesen Worten machte er eine Pause, wie um Atem zu schöpfen. Als jedoch die Pause nicht enden wollte, schaute sie auf. Da stand er bebend vor ihr, von inneren Stürmen geschüttelt, die Lippen gewaltsam schließend. »Ich kann es Ihnen doch nicht erzählen« – brachte er mühsam hervor – »es geht zu tief« – und stemmte sich aufs Klavier.

Geschwind sprang sie auf, um ihn nötigenfalls zu stützen.

Doch er hatte sich bereits wieder aufgerichtet.

»Ich habe recht entschieden!« – rief er – »ich weiß, ich habe recht entschieden! Und stände ich nochmals vor der Wahl, ich würde nicht anders entscheiden!« Dann nahm er seinen Hut, verbeugte sich und küßte ihr die Hand. »Ich werde es Ihnen aufschreiben«, sagte er. Tief ergriffen begleitete sie ihn bis zur Haustür.[284] »Gut«, sagte sie, nur um etwas zu reden, und zwang ihre Stimme zu unbefangenem Ton: »Gut, schreiben Sie mirs auf. Sie wissen, daß alles, was Sie bewegt, auch mir nahegeht; und glauben Sie mir, ob ich Sie schon nicht jederzeit verstand und auch jetzt nicht verstehe, so habe ich doch niemals, auch nur einen Augenblick, an der Lauterkeit und Vornehmheit Ihrer Beweggründe gezweifelt.«

»Dank! treue edle Freundin!« rief er leidenschaftlich, sie mit beiden Händen stürmisch ergreifend. »Sie heilen mich; es tut so weh, so unerträglich weh, wenn jemand an der Vornehmheit meines Charakters zweifelt.«

»Wer hat das jemals getan?« rief sie heftig, fast zornig.

Er erstaunte. »Jedermann«, antwortete er zaudernd, »das heißt – eigentlich niemand Bestimmtes.«

Unterdessen hatte sie sich ihm entwunden und flüchtlings einige Stufen nach oben zurückgezogen. »Und eins noch: nicht wahr, Sie sind nicht ungerecht? Sie tun ihr nichts zuleide?«

Er lächelte: »Ich tue keinem Menschen etwas zuleide als höchstens mir selber.« Damit verließ er das Haus.

»Sind Sie ein gefährlicher, ein unerlaubter Mensch!« – seufzte sie ihm nach und warf sich erschöpft in den Lehnstuhl, um sich von der Anstrengung zu erholen.


Er aber eilte auf sein Zimmer, das Bekenntnis niederzuschreiben, das er ihr mündlich schuldig geblieben. Und siehe da, während ihn sonst das Schreiben wie Krötengift anwiderte, verspürte er jetzt, nachdem ihm durch das Verhör die Erinnerung aufgewühlt worden war, ein gieriges Verlangen, die Entscheidungsstunde seines Lebens einmal leslich festzubannen, damit sein erhabenes Geheimnis auch außer ihm dastände, unabhängig von seinem Gedächtnis, als feste Wahrheit.

So schrieb er denn, knirschend zwar und gegen den Zwang der[285] nüchternen Denkgesetze schäumend, aber in einem einzigen Zuge, in fieberhafter Eile:


An Frau Martha Steinbach


Fluch und Schmach der kahlen Prosa zuvor, denn sie entweiht! Also, ich erzähle und entweihe:


Meine Stunde


Ihr Brief mit Theudas Bild war am Morgen angekommen, jener Brief, in welchem Sie mir andeuteten, daß ein klares Wort von mir erwartet werde, daß dem Wort eine holde Antwort gewiß wäre, daß dagegen längeres Zaudern als Verzicht ausgelegt würde. Ich verstand: eine Mahnung, verstärkt durch eine Warnung, und ich begriff: dieser Tag ist ernst; heute gilt die Entscheidung. Ich betrachtete das Bild; tausend wonnige Werte schauten mir daraus entgegen; die Reinheit einer auserlesenen, durch Schönheit, Tugend und Erziehung hervorragenden Jungfrau – die Erinnerung an gemeinsam verlebte Stunden, zwar von nichtigem Ereignisgehalt, doch von ewigem Poesiewerte (Parusie nenne ich jene Stunden für mich) – der innige Blick der seelenvollen Augen, die zu mir sprachen: »Dein denkt meine Hoffnung« – die Verheißung einer Unsumme von Seligkeiten jenem, der sie zu erwerben wissen werde. Unter dem Bilde stand in unsichtbarer Schrift zu lesen: »Dies ist der höchste Preis«, und die Worte Ihres Briefes flüsterten: »Der Preis ist dein.«

Solange des Tages Unruhe meine Sinne beschäftigte, behielt ich das Bild im verborgenen, nur flüchtig daran naschend, sei es, um in die wundersamen Rätsel der tiefsinnigen Augen zu tauchen, sei es, um die unerschöpflichen Wunder der weiblichen Schönheit zu kosten. So weidete ich im verstohlenen mein Herz an dem lieben Bilde.

Am späten Abend jedoch, während ich einsam im dunklen Zimmer saß, stellte ich das Bild vor mich auf den Tisch, andächtig[286] nach ihm schauend, ob ich es schon in der Finsternis nicht sehen konnte. Durch das Schweigen der weiten Wohnung, in welcher sämtliche Türen offenstanden, tönten melodische Laute: das weiche Gurren eines Turteltaubenpaares aus dem nachtschwarzen Speisezimmer und drüben, vom kronleuchtererhellten Saale das träumerische Trillerschwirren eines Kanarienvogels, von jenen, welche beim künstlichen Lichte singen.

Da saß ich nun und wog mein Schicksal. Wie zweierlei Odem aus entgegengesetzten Weltgegenden umschauerte es mich; in der Mitte aber drohte die Frage: »Darfst du? Sprießt der Größe mit dem Glück ein Vergleich?« – Traurig vernahm ich die Frage, ahnend, daß die Antwort verneinend ausfallen müsse, sonst hätte ja die Frage nicht verlautet. Mein Herz aber, die Gefahr spürend, begann zu toben: »Deine Größe« – schrie es – »der du mich opfern willst, wo ist sie? Zeig her, beweise deine Werke! – Zukunftsgröße? Ei, wer bürgt dir denn, daß du sie nur erlebst, die Zukunft? Es gibt Krankheiten, es gibt einen Tod. Oder wähnst du dich etwa den Nöten der Natur enthoben? Doch gesetzt, du bleibest leben, woher beziehst du es, das Märlein deiner künftigen Größe? Bitte, sage, woher? Aus deinem Selbstbewußtsein? O Jammer! o Fastnacht! Nimm mirs nicht übel, laß mich lachen. Nach Zehntausenden zählt man sie, die Jünglinge, die großwichtig von ruhmwürdigen Taten träumen; mit einem Selbstbewußtsein, so riesig, daß sie zur Weltkugel aufschwellen. Und was wird später aus ihnen? Schau hin: unnütze Wichte, Nullen, mit Bitterkeit gefüllt und mit Selbstkrieg behaftet. Oder meinst du etwa, dein Selbstbewußtsein wäre von besserem Karat? Weswegen? Woher? Weil es größer ist? Um so schlimmer, um so gewisser, daß du ein Tropf bist! Größenwahn, mein Teuerster! gemeiner germanischer Schulbubengrößenwahn! Nur, daß die andern, weniger unbescheiden, weniger verbohrt als du, den bübischen Blast mit dem Staatsexamen abzuwerfen pflegen. Viktor, ich sage dir, dein sogenannter ›Beruf‹ mitsamt deiner eingebildeten[287] künftigen Größe ist eitel Wunsch und Wind; das köstliche Geschenk dagegen, das dir die Gunst des Schicksals heute anbietet, ist haltbare, weltwirkliche Seligkeit. Lächerlichkeit über dich und Reue, lebenslängliche höllische Reue, lässest du für ein gaukelndes Irrlicht der Eitelkeit dein Liebes-, dein Lebensglück entgleiten. Nicht einmal Mitleid wird man dir zollen, wenn du elendiglich verendest, sondern statt des erhofften Nachruhms wird über deinem Grabe der Gedenkspruch warnen: ›Hier platzte eine Blase.‹«

Da lernte ich zum ersten Male in meinem Leben den Zweifel. Unsicher erwiderte ich: »Du weißt doch, oh mein Herz, daß ich meinen Beruf, meinen Glauben, mein Selbstbewußtsein nicht aus mir selber beziehe, sondern –« »Sondern von wem?« – höhnte das Herz – »gelt, du verstummst? gelt, du schämst dich vor deinem Verstande, deine Torheit mit deutlichen Worten auszusprechen? Weil du, ob du dirs schon nicht gestehst, in deinem Innersten spürst, daß du einen kindischen Götzendienst züchtest, an Stelle eines anständigen, namhaften, weltschöpferischen Gottes ein wesenloses, selbstgeschaffenes Gespenst anbetend, ein luftiges Spiegelbild deiner eigenen Seele, das du mittels Phantasie-Kunststücklein außer dich setzest, in der albernen Hoffnung, daran über dich selber emporzuklettern wie Münchhausen an seinem Zopf. Nicht einmal den Namen deines Götzen wagst du ja ohne Erröten zu bekennen. Was ist das, deine geheimnisvolle ›Herrin deines Lebens‹, die ›Strenge Frau‹, der du mit fanatischer Hingebung dienst wie ein Prophet seinem Jehova? Ich will dir sagen, wer deine ›Strenge Frau‹ ist! Jeder Student kennt sie, jeder Pfuscher, jeder Polterabenddichter, jeder Zuckerbäcker: Die Muse ist es, verjährten Angedenkens; die alte abgeschmackte Allegorientante, die Patin der Leblosigkeit, die Schutzpatronin des Nichtkönnens. Und solch einem verstaubten, von der Landstraße aufgelesenen Lehrbegriff soll ich mich von dir Narren verkaufen lassen? Wegen dieses Schulstubentrödels wagst dus und[288] willst meine Seligkeit verschachern? Was schäumst du, was entrüstest du dich? Daß ich deine ›Strenge Frau‹ gemeinhin eine Muse nenne? – Wäre sie nur wenigstens eine Muse! – Aber sie ist ja nicht einmal das! Eine Muse lehrt doch einen Gymnasiasten zwei Verse wohl oder übel zusammenleimen. Kannst du das? Und was kannst du denn sonst, du dreißigjähriger Bube? Gar nichts kannst du, nicht einmal einen gerechten Satz auf ein Stück Papier schreiben! Eine Null warst du, eine Null bist du, und eine Null wirst du bleiben; ungefähr wie die übrigen, nur noch um eine Nummer unbedeutender. Die übrigen aber bescheiden sich, und zum Lohne dafür dürfen sie glücklich sein. Bescheide dich, und du darfst es gleichfalls!«

In dieser Not flüchtete ich zu ihr selber, der Herrin meines Lebens, der Strengen Frau: »Siehe, mein Herz versucht mich schwaches Menschenkind; mit Reue mich bedrohend, deinen heiligen Ursprung leugnend, dich eine gemeine Muse schmähend. Darum höre: Ich, der dir ohne Murren alle Hündlein meines Herzens dahingegeben, damit du sie erwürgest, ich heische heute, ehe ich dir das letzte, schwerste Opfer bringe, von dir ein Zeichen, daß du kein täuschend Trugbild bist, ein Pfand, daß du Gewalt und Macht hast, tauglich, mich ans Ziel zu geleiten. Gib mir das Pfand, gewähre mir das Zeichen, und ich gehorche. Wo nicht, verlange nicht von einem schwachen Menschenkinde, daß es sein süßes, seliges Glück für ein Geflüster ohne Unterschrift dahintausche.«

Die strenge Antwort kam: »Ich gewähre weder Pfand noch Zeichen. Willst du mir dienen, so diene mir blindgläubig bis ans Ende!«

»So vergönne mir wenigstens deutlichen Befehl. Befiehl ›entsage!‹, so entsage ich. Nur befiehl deutlich und erlöse mich vom Zweifel.«

Die strenge Antwort kam: »Ich weigere den Befehl. Dein ist der Zweifel, dein ist die Wahl! denn am Scheideweg des Schicksals[289] richtig wählen, ist die Beglaubigung der Größe; doch wäg es wohl, denn wählst du falsch, lohnt dir mein Fluch!«

Zur Linken die Reue, zur Rechten der Fluch! Bekümmert starrte mein Zweifel auf das Zünglein der schlimmen Waage. Da keimte es in den Tiefen meiner bangen Seele, und in die Not der Gegenwart herüber wuchs die Erinnerung an die weihevolle Stunde, da ich zum ersten Male der Strengen Herrin Flüsterhauch vernahm und die inhaltschweren Bilder ihrer überirdischen Sage schaute: die Forderung der kranken Kreatur, als Löwe durch die Felsenkluft dem Erdental entsteigend, das Himmelsvolk erschreckend und den Schöpfer aus den stolzen Hallen seines herrlichen Palastes scheuchend – und was sich alles sonst im Himmelreiche mit dem Löwen außerdem begeben. Diese Stunde schaute ich wieder, und Sehnsucht stärkte meinen Glauben. »Wohlan, es sei! So nimm denn auch dies letzte, größte Opfer. Ein Bettler, steh ich dann auf Erden; ist nichts mein eigen als du und deines Odems flüsternde Verheißung.« Ich riefs und lud mit gramerfülltem Mut den Willen zum entsagenden Entschluß.

Da tat mein Herz einen letzten verzweifelten Ansprung: »Und sie selber, die auf dich hofft und wartet? Willst du sie gleichfalls opfern? Darf, kann das deine Menschlichkeit? Erlaubt das dein Gewissen?« Kleinmütig spannte ich den Willen wieder ab. Das Herz aber fuhr eifrig fort: »Was wird sie fühlen? was muß sie von dir denken? welch ein Urteil über dich fällen, wenn du sie verschmähst? Sie wird dich für einen zaudernden Schwächling halten, zugleich für einen albernen Toren, unfähig, ihren Wert zu erkennen. Das muß sie von dir denken; und also denkend, wird sie dich verachten.«

Unerträgliche Vorstellung! Das Opfer konnt ich leisten, nicht aber die schimpfliche Mißdeutung des Opfers ertragen, nicht ihre Verachtung auf mich laden. Nun wußte ich nicht mehr aus und ein, denn erschöpft versagte mein müder Geist den schlichtenden Gedanken.[290]

Da geschah mir die Erscheinung. Sie selbst erschien mir, Theuda, ihre Seele. Ähnlich wie sie mir einst leiblich in der Parusie erschienen war, nur reifer, ernster, mit tiefsinnigen Augen, so wie sie aus dem neuen Bilde blickte. Aus der Finsternis des Speisezimmers trat sie, von dorther, wo die Turteltauben gurrten, blieb auf der Schwelle stehen und sah mich mit traurigen Augen vorwurfsvoll an: »Warum unterschätzest du mich?« sprach sie.

»Ich! dich unterschätzen« – schrie ich – »oh, wenn du wüßtest!«

»Doch, du unterschätzest mich« – sagte sie. »Indem du mir eine so kleinliche Gesinnung zutraust, ich wäre fähig, als Hindernis zwischen dich und deinen erhabenen Beruf treten zu wollen. Ja, meinst du denn, nur du allein könnest groß fühlen? Nur du wärest edel genug, um deines Herzens Opfer zu bringen? Glaubst du, ich spüre nicht ebensogut wie du den Odem deiner Strengen Frau? ich vermöchte nicht die stolze Auszeichnung zu würdigen, von ihrem auserwählten Hauptmann zum Sinnbild erhöht zu werden? ich begriffe und fehlte nicht, daß es unendlich ehrenvoller und beglückender ist, deine gläubige Begleiterin auf der kühnen Bergstraße des Ruhmes zu sein, als deine geschäftige Gattin und Kinderfrau? Komm, laß uns gemeinsam unsere Herzenswünsche zu den Füßen der Strengen Frau niederlegen, einen edleren Bund vor ihrem Antlitz schließend als den gemeinen Geschlechterbund vor dem Altar der Menschen, den Bund der Schönheit mit der Größe! Ich will dein Glaube, deine Liebe und dein Trost sein, und du sollst mein Stolz und mein Ruhm sein, der mich erbärmliches vergängliches Geschöpf zum Symbol verklärt, in die Unsterblichkeit hinüberrettet.« – So sprach sie, und voll jubelnden Dankes grüßte ich den Adel ihrer Größe.

Darauf taten wir wie beschlossen. Wir legten unsere Herzenswünsche zu unsern Füßen nieder, dann nahm ich den Brautkranz von ihrem Haupt, hernach streifte sie den Ring von meinem[291] Finger, und wir legten es zu dem übrigen. Und als wir nun leer und kahl dastanden, wie zwei Bäume, die sich selbst entblättert hatten, ohne einen anderen Schmuck als die Hoheit der Seele, da rief ich: »Herrin meines Lebens, du meine Strenge Frau; es ist geschehen! Schau her, das Opfer, das du heischest, ist vollzogen.«

Ihr Odem erschien, und vor dem Schauer ihres Schattens sank meine Geliebte auf die Knie und vergrub zagend ihr Gesicht in meinen Händen. »Wohl dir«, begann die Strenge Frau, »o mein getreuer Hauptmann, daß du recht entschieden; nimm drum zum Lohne meinen Segen. Dies ist mein Segen: Mit Pathos bist du nun geprägt und mit Größe gestempelt; ausgezeichnet vor allen, die ohne das schwarze Siegel meiner Berufung ihre Tage dahinstümpern. Ich befehle dir ein Selbstgefühl, das dich in Irrtum und Narrheit, in Schimpf und Mißachtung nicht verläßt, und ich verbiete dir, jemals in deinem Leben unglücklich zu sein. Denn nicht du bist es, den du fortan in dir fühlst, sondern mich fühlst du in dir; also daß, wenn du nicht hochmütig fühlst, du mich beleidigst. – Doch wer ist jene, die an deiner Seite kniet?«

Ich antwortete: »Dies ist meine edle Freundin, deine gläubige Magd, die gleich mir die Wünsche ihres Herzens zum Opfer dir gebracht. Nimm sie an, wie du mich selber angenommen.«

»Steh auf« – befahl meiner Freundin die Strenge Frau – »und zeige mir dein Angesicht! Dein Angesicht ist schön und wahr; wohlan, ich nehme dich an, nicht als meine Magd, sondern als meine Tochter. Neige dein Haupt, o meine Tochter, damit ich dich taufe!«

Da neigte meine Freundin ihr Haupt, und meine Herrin taufte sie mit dem Namen Imago.

»Und nun«, schloß die Strenge Frau, »reicht euch die Hände, damit ich euern Bund segne.« Nachdem wir uns die Hände gereicht, sprach sie den Segen: »Im Namen des Geistes, der da[292] höher ist als die Ordnung der Natur, im Namen der Ewigkeit, die heiliger ist als das vergängliche Gesetz der Menschen, erkläre ich euch hiermit als Braut und Bräutigam verbunden, lebenslänglich, untrennbar, durch Glück und Unglück, mit der Seele in steter Hochzeit beieinander wohnend. Du sollst ihr Ruhm und ihre Herrlichkeit sein, und sie soll deine Wonne und deine Süßigkeit sein.« – Nach diesen Worten verschwand die Strenge Frau, und wir waren wieder zu zweien allein.

»Ward dir das Opfer schwer?« lächelte Imago.

Ich jauchzte: »O Krönung meines Lebens, o Verschwendung der Gnade!«

Darauf grüßte Imago den Abschied: »Du bist nun müde, und ich habe einen weiten Weg; doch morgen kehre ich zurück, denn wir weilen ja nun in ewiger Hochzeit täglich beisammen.«

Nach diesen Worten schieden wir in Hoheit und Seligkeit. Aber noch lange blieb ich, dem schweren Nachhall des Ereignisses lauschend, am dunklen Schreibtisch gebannt; denn wie ein Ozean rauschte es durch meinen Geist, und ein feierlicher Gesang umtönte mich wie nach einem Gottesdienste.

Und am folgenden Morgen begann in Wahrheit, wie uns verkündet worden, unser stetes Beisammensein. Eine fliegende Hochzeit, ein jauchzendes Duett, mit vereintem Siegesmunde gesungen. Doch ihre Stimme klang höher als die meinige, so daß ich öfter innehielt, um ihrem Gesang zu lauschen. Wenn ich an ihrer Seite über die Hügel der Erde in das Reich meiner Strengen Frau sprengte, welches reiner ist als das Reich der Wirklichkeit, aber wesenhafter als das Reich der Träume, also daß die Wirklichkeit sich zu ihm verhält wie das Getier zum Menschen, aber der Traum zu ihm sich verhält wie der Geruch zur Blume, und welches sich bis zu den Gefilden der Erinnerungen und Ahnungen erstreckt, da jubelte Imago: »O mein Geliebter, in was für neue, weite Welten führst du mich die Straße? mein überraschtes Auge nennt sie fremd, doch mein beglücktes Herz begrüßt sie ›Heimat‹.«[293] – Und gute Völker, freundlicher als der Menschen Völker, hießen an den Pforten der Täler uns brüderlich willkommen.

Wenn ich unter sorgenschwerer Arbeit, während welcher sie bescheiden ihre Gegenwart verhehlte, hin und wieder rastete und seufzend aufschaute, traf mich Imagos andächtiger Blick: »Wie beglückt mich der Stolz« – erwiderte ihr Blick – »mich von einem solchen geliebt zu wissen.« Wenn ich nach redlich erworbenem Ruherecht mit ihr in das Außenleben hinunterstieg, mit ihr scherzend wie mit einer menschlichen Ehefrau, sie mit törichten Kosenamen nennend, ihr beim Essen einen Teller und ein Besteck hinstellend, als säße sie körperlich neben mir, lachte Imago vergnügt: »Was sind wir Kinder! Wie aber vollbringst du Tiefer das Wunder, daß du mich so fröhlich lachen lässest, wie ich nie zuvor so fröhlich lachen konnte?«

Darüber wurde ich reich und freundlich, so daß die Menschen verwundert zu mir sprachen: »Angenehm; wie hast du dich lieblich verwandelt.« Wie ein Baum auf freier, sonniger Wiese, der den Wipfel nach allen Seiten entfalten darf und dem die Früchte sämtlich reifen.

Und das währte so weiter, eine unendliche Seligkeit, jenseits von Zeit und Raum, bis zu dem Tage, da die Schnauze des Verrates in die goldige Wonne hereinfuhr wie ein Wildschwein durch eine Tapete. Eine gedruckte Verlobungsanzeige mit einem Fremden; ohne ein Wort der Freundschaft, ohne ein Zeichen der Erinnerung; nichts als die rohe Tatsache. Das Ganze eine stumme Frechheit!

Verächtlich warf ich den Wisch in den Winkel. Nicht der mindeste Schmerz, bloß Empörung über den Verrat, gemischt mit Trauer über die Offenbarung ungeahnter Kleinheit. Etwa so, wie wenn man berauschenden Herzens ein herrliches Klavierstück spielt und plötzlich läge vor einem an Stelle der Noten eine Kröte. Es ist also menschenmöglich, daß ein weibliches Geschöpf, dem das Schicksal die Gunst anbot, als Liebesgenossin eines Berufenen[294] Ewigkeitsluft zu atmen, vorzieht, mit dem ersten besten Bärtling in den Sumpf der Familie zu waten. Verblüfft staunte ich dem wunderlichen Phänomen der Kleinheit nach, wie einst in der Kinderzeit, als ich einen Krebs betrachtete. »Wie kann man ein Krebs sein!« hatte ich damals gerufen. Heute rief ich: »Wie kann jemand nicht groß sein!«

Und durch ihren schmählichen Abfall soll jetzt meine schöne Seligkeit elendiglich verwesen? Plötzlich lachte ich laut auf Fasching und Fabel! Das hattest du ja alles nur in sie hineingedichtet: die Schicksalsstunde der Verlobung, ihre Hoheit, ihre Größe, ihren Seelenadel, ihre Liebe, ihre Freundschaft. Imago lebt nicht als einzige in dir; die menschliche, leibliche Theuda aber ist eine Verschiedene, eine Fremde, namens Ix; und zwar ein unbedeutendes Vögelein, wie deren in jeder Stadt zu Hunderten piepsen. Ich hob die schamlose Karte wieder auf und roch daran. Kein Zweifel, ganz deutlich, sie roch nach Gewöhnlichkeit. Genau wie die andern: war entschlossen, überhaupt zu heiraten (vermutlich nach einer unglücklichen Liebe – der Weg zum Altar führt ja bei den Frauen meistens über das Grab des Herzens –), von einem Schwarm verhaßter Bewerber bedrängt, sieht sie in mir, dem fremden Neuling, einen Erlöser, findet mich annehmbar – glaube schon – erhält mich nicht, um so schlimmer, so nimmt sie eben in Gottes Namen einen andern. So geht es gewöhnlich, so ging es auch mit ihr, der Gewöhnlichen. Fort mit ihr! Jüngferlein Ix, dein Name lautet: ›nicht vorhanden!‹ Zum Beweis dafür, schau her, was ich mit dir mache. So mache ich mit dir! Zerriß die Karte und warf die Fetzen in den Papierkorb. Und jetzt wollen wir mit deinem hübschen Lügenlärvlein also tun. Nahm das Bild hervor, um es gleichfalls zu zerstückeln. Zum Abschied aber mochte ich es vorher noch einmal anschauen. Also diese tiefsinnigen schwermütigen Augen trügen; der ganze Adel dieses Schönheitsfrühlings ist gemeiner Jugendspeck! Da fing das Bild bitterlich an zu weinen: »Nein, ich lüge nicht« – weinte es – »denn damals, als[295] dieses Bild mich spiegelte, dürstete meine Seele wahrhaftig nach Hoheit; diese Augen, die dich anblicken, schauten einst nach dir; dein dachte mein Wunsch, dein sehnte meine Hoffnung. Eine andere, spätere, mit deren Taten ich keine Gemeinschaft habe, hat dich verraten. Jedoch nicht aus niedriger Gesinnung, sondern eitel aus Schwäche und Kleinheit. Und wer weiß, vielleicht kommt später einmal eine Stunde, da sie sich besinnt, sich erinnert, sich ihres Abfalls schämt und zu dir zurückkehrt, mein Angesicht entsühnend, damit es nicht mit gebrandmarkter Schönheit schmachvoll in die Welt schaue wie ein gefallener Engel.«

Da erbarmte ich mich des Bildes und hob es andächtig auf, wie das Bild einer Verstorbenen. Der andern aber, der Neuen, der Treulosen, erkannte ich den lieben Namen Theuda ab und nannte sie fortan Pseuda, das heißt: die Falsche.

Jenen Abend, als ich wie gewöhnlich spazieren ritt (wohlverstanden, auf einem wirklichen, leibhaftigen Pferde), hörte ich jemand hinter mir reiten. Ich wußte, wer es war, denn ich hatte sie erwartet. »Imago«, mahnte ich, »was reitest du hinter mir? und kommst nicht an meine Seite?«

Sie antwortete: »Weil ich jetzt deiner unwürdig bin, da ich die Gesichtszüge einer Treulosen trage.«

Ich sprach: »Imago, meine Braut, du trägst nicht ihre Gesichtszüge, sondern jene trägt fälschlich die deinigen. Darum komm an meine Seite, dein Antlitz sei mir gesegnet!«

Da ritt sie an meine Seite, verbarg jedoch ihr Gesicht mit den Händen. Ich aber entfernte ihr sanft die Hände vom Gesicht. »Siehst du, wie du schön bist und groß und seelenvoll! Darum schaue mich frei offen an, unbekümmert um dein unwürdig Urbild, so wie auch ich mich nicht darum bekümmere.«

Jetzt schaute sie mich offen an, dankend mit den Augen, und wir begannen wieder zu singen wie vordem. Und ihre Stimme klang noch schöner als zuvor; allein mit wehmütigem Ton, wie wenn ein Unschuldiger leidet; so daß es einen zu Tränen hätte[296] erbarmen mögen. Plötzlich jedoch, mitten im Singen, brach sie ab, mit einem gurgelnden Schrei, preßte die Lippen zusammen wie ein sterbender Engel und wankte im Sattel. »O wehe mir!« klagte sie, »es hat mir jemand einen häßlichen Stoß versetzt, so daß ich krank bin und die Stimme nicht mehr schwinge. Darum laß nun ab von mir, Viktor, und suche dir eine frische Imago; eine, die da gesund und kräftig ist und ein unbescholtenes Gesicht hat, damit sie dir jauchze und singe, dir zur Süßigkeit und zum verdienten Lohne.«

Ich rief. »Imago, meine angelobte Braut, man läßt nicht von der Freundin, weil sie krank ist. Denn ich habe einen Bund mit dir vor dem Odem meiner Strengen Herrin geschlossen, also, daß mir dein Antlitz das Sinnbild alles Edlen und Hohen bedeutet. Darum höre, was ich dir verkünde: Dafür, daß du krank und traurig bist, dafür ist meine Liebe zu dir noch vielmal größer als ehedem, als du in Freuden und Seligkeit an meiner Seite jauchztest.«

Sie sprach: »O wehe dir, Viktor, daß du nicht von mir lässest! denn ich kann dir fortan nichts mehr bringen als Herzeleid.«

Ich erwiderte: »So bring mir Herzeleid, Imago, meine edle Braut. Ich aber lasse nicht von dir.«

Also erneuerte ich den Bund mit der kranken Imago; und war alles wie vorher, nur daß ihre Stimme verstummt war und ihre Augen schmerzlich blickten. –

Und also ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. Und sie ist meine Braut, und ich lasse nicht von ihr, und sie ist mir tröstlicher als alle Reichtümer der Welt, ob sie gleich stumm und krank ist. – Heida! Mut, Trotz und Freiheit! Mein ist die Strenge Frau, mein ist Imago; jene für mein Werk, meinen Beruf, meine Größe, diese für meine süße Liebe; der Rest ist Unrat. Der irdischen Weiber scherz ich; ein Trunk am Wege, genossen, verdankt und vergessen. Ich sehe ihrer mancherlei, lichte und dunkle. O lecker die lichten, o Wollust die dunklen! doch ihren Namen[297] unterscheide ich nicht. Nur einen einzigen Namen habe ich mir gemerkt: das ist Pseuda, namens Ix, die Kleine, die Abtrünnige, die mir Theuda betrübte und Imago kränkte. Unter mir die Rache! eines bloß begehr ich von ihr zum Entgelt: sie einmal, nur ein einziges Mal wiederzusehen, um zu erfahren, wie eine Treulose in den sauberen Tag schaut, um zu erleben, daß sie die Augen vor mir niederschlägt. Dies ist mein gutes Recht, das sei ihre verdiente Strafe. Damit genug; wohl bekomm ihr der Sumpf, Gott segne ihre Ehe.

Hiermit bin ich fertig, und da ich fertig bin, höre ich auf.

Ihr getreuer

Viktor


Dies Bekenntnis schob er noch in der nämlichen Nacht eigenhändig in die Brieflade. Und am folgenden Morgen schon, mit der Elfuhrpost, erhielt er der Freundin Antwort:

Verehrter Freund! Ich habe Ihr erstaunliches Bekenntnis, dessen Mitteilung ich Ihnen als einen Beweis des Vertrauens verdanke, mit der gebührenden Andacht gelesen. Ehe ich indessen auf den Inhalt eingehe, lassen Sie mich zuerst etwas Störendes beseitigen; es brennt mich auf der Zunge, ich will es daher gleich erledigen: nicht wahr, es ist nicht Ihr Ernst, eine Frau durch einen Vorgang gebunden zu glauben, von dem sie nichts weiß und auch nichts wissen kann; einen Vorgang, der einzig in Ihrer Phantasie geschah: durch ein erträumtes Verlöbnis, mit einem Wort. Das tun Sie nicht, das können Sie nicht tun, weil es ebenso unvernünftig wie unbillig wäre. Den häßlichen Namen Pseuda, lieber Freund, verdient Frau Direktor Wyß nicht; denn wenn es eine Frau auf Erden gibt, die offen und wahr ist, so ist sies. Zur Größe wollten Sie sie verpflichten? Ich weiß nicht, ob Frauen überhaupt der Größe fähig sind – wir haben andere Eigenschaften – aber gesetzt, sie wären dessen fähig, wer ist denn zur Größe verpflichtet? Die bedauernswerte Menschheit, wenn Größe Pflicht wäre! Frau[298] Direktor Wyß ist wie jede andere, wie ich, wie wir alle, dazu erzogen worden, einem braven Manne eine treue Gefährtin zu sein, und diesen Beruf erfüllt sie aufs beste, sich zum Frieden, ihren Nächsten zum Glück, den übrigen zur Erbauung. Ich kenne in der ganzen Stadt keine tugendhaftere, treuere, selbstlosere Gattin und bessere Mutter. Ich muß mich daher nochmals dagegen verwahren, daß jemand ihr zumutete, die Augen niederzuschlagen. Das braucht sie nicht zu tun, und, beiläufig bemerkt, das wird sie auch nicht tun; verlassen Sie sich darauf. Zugegeben, daß vielleicht eine andere Frau den Zauber der Parusie mitgefühlt hätte – es müßte freilich eine Frau von seltenen Eigenschaften sein, und sie müßte Sie mit allen Fasern ihres Herzens geliebt haben. Allein sie hat nun einmal die Parusie nicht gefühlt, und es war auch keineswegs ihre Pflicht, sie zu fühlen. Dies vorausgeschickt, fange ich nochmals von vorne an.

Ja, mit wahrer Andacht habe ich Ihr Geständnis gelesen; ergriffen und verwirrt, erschrocken und erhoben. Ich besitze nicht die gehörige Gabe von nüchterner Vernunft, auch nicht das nötige Maß von Verständnislosigkeit, um mich über die ungeheuerliche Vermengung von Phantasie und Wirklichkeit aufzuregen. Obschon! was sind das für Sachen: ›Theuda‹, ›Pseuda‹, ›Imago‹ (Fräulein Ix will ich Ihnen noch schenken), drei Personen mit einem einzigen Gesicht! Die eine existiert nicht, die andere ist tot, die dritte ist ›nicht vorhanden‹, und jene, die nicht existiert, ist krank! Wenn nur das Herz nicht Mus macht!! Mir stockt einfach der Atem; ich weiß nicht recht, ob mehr vor Furcht oder vor Ehrfurcht. Sie sind – verzeihen Sie, ich weiß, Sie hassen den Namen, aber ich kann Sie doch nicht Rabbi nennen – Sie sind, ob Sie sich noch so sehr dagegen sträuben, ein Dichter. Wenn Sie übrigens lieber ein Seher oder Prophet heißen wollen – Ich habe Ihr Hohelied von Imago mit dem frohen Staunen gelesen, wie man ein Großwerk der Poesie anhört, bin auch im Innersten davon überzeugt, der Dämon, von welchem[299] Sie besessen sind, mögen Sie ihn nennen, wie Sie wollen, ›Imago‹ oder ›Strenge Frau‹ oder sonstwie (er wird wohl ein naher Verwandter des Genius sein), ist heiligen Ursprungs. Denn das steht bei mir fest: etwas, dem ein erwachsener Mann, so überlegen gescheit und verständig wie Sie, sein Liebesglück zum Opfer bringt, ist kein Irrwisch. Kurz, ich glaube an Ihre ›Strenge Frau‹ und auch an Sie, mein lieber Freund, an Ihr Werk, an Ihre künftige Größe, die ich bisher bloß gehofft und ahnend vermutet hatte. So sehr glaube ich daran, daß mich Ihre Erzählung mit reinern Seelenglück erfüllen würde, wie das Erlebnis eines unsterblichen Kunstwerkes, wenn ich nicht zugleich Ihre Freundin wäre, wenn ich nicht durch meine herzliche Teilnahme gezwungen würde, auch an Ihr menschliches Heil oder Unheil zu denken. Schrecken aber erfaßt mich bei dem Gedanken, was Sie leiden werden, wenn Sie mit Ihrer schönen Phantasiewelt (verzeihen Sie einer Frau den Romanausdruck) an die harte Wirklichkeit stoßen (o weh, aber ich finde kein anderes Wort); und nur eines wundert mich, daß der grausame Stoß nicht schon längst erfolgt ist. Müssen das seltene Menschen von zarter Seelenfeinheit gewesen sein, unter denen Sie in der Fremde wohnen durften, daß Ihnen vergönnt war, sich dermaßen ungehindert und ungestraft in eine Idealwelt einzuträumen, zumal im Gewühl einer großen Stadt! Schwerlich rate ich fehl, daß es eine Frau war, und zwar eine hochsinnige Frau von außerordentlichen Eigenschaften, deren Sorge über Ihren Weg wachte. Ich würde solch ein dauerndes Phantasieglück mitten unter den Menschen überhaupt nicht für möglich gehalten haben, wenn Ihre Schilderung mirs nicht bezeugte.

Ich bewundere die Willenskraft, die Treffsicherheit, mit welcher Sie unter der Leitung der ›Strengen Frau‹ Ihren Lebensweg im verworrensten Dickicht zurechtfinden; allein, verzeihen Sie, ein Fehler läuft doch mit unter. Sie sind hier, und Sie sollten nicht hier sein. (Nicht wahr, Sie mißverstehen mich nicht? Ich[300] denke eben nicht an mich, sondern an Sie.) Gestatten Sie mir, daß ich mich durch die Miggimaggi Ihres Herzens nicht täuschen lasse: Sie wollen Frau Direktor Wyß einfach wiedersehen. Und warum wollen Sie sie wiedersehen? Weil Sie sie nicht vergessen können. Das ist bedauerlich; ich hätte Ihnen gewünscht, Sie könntens; denn das Nachsehen nach etwas, was man endgültig weggegeben hat – Sie sehen, ich unterstreiche das Wort ›endgültig‹ – bringt nur unnützes Augenweh. Allein es ist wahrlich nicht die Rolle einer Frau, Sie deswegen zu tadeln; denn daß man seinem Herzen nicht gebieten kann, wer wüßte das besser als wir? Nur möchte ich Sie eben davor bewahren, daß Sie sich durch vergebliche Hoffnungen grausame Enttäuschungen zuziehen. Wollen Sie von Ihrer alten Freundin eine wohlgemeinte Warnung annehmen? – es wird zwar nichts nützen, allein ich muß es trotzdem tun, weil ich mirs nicht verzeihen könnte, es nicht getan zu haben: Sehen Sie sie nicht wieder; verlassen Sie so schnell wie möglich diesen gefährlichen Boden, und singen Sie Ihr herrliches Duett mit Imago weiter, aber in sicherer Ferne. Imago wird mit der Zeit genesen und ihre Stimme wiederfinden, darum ist mir nicht bange. Hier dagegen ist nichts für Sie zu holen als Unfriede. Merken Sie wohl, was ich Ihnen sage, ich, die ich Frau Direktor Wyß kenne – sie war ja sozusagen in gewissem Sinne meine Schülerin (wenn auch nur vorübergehend) und hat mich eine Zeitlang mit ihrem Vertrauen beehrt – merken Sie wohl, was ich Ihnen sage: sämtliche Fächlein ihres Herzens sind besetzt. Liebe suchen Sie ja nicht bei ihr, nicht wahr? Dazu sind Sie zu gewissenhaft; Freundschaft aber werden Sie nicht erhalten, denn zur gemeinen Konzert- und Hausfreundschaft kommen Sie zu spät, und zur hohen Seelenfreundschaft, wie Sie sie meinen, zu früh. Dazu ist sie viel zu jung, zu ungequetscht, zu glücklich. Und daß Sie sich ja nicht etwa auf Ihre geistigen Eigenschaften verlassen! Sie ißt nicht von dieser Konfitüre. Wer den Hauch der Parusie nicht gespürt hat, wird auch den Odem der[301] ›Strengen Frau‹ und den Tritt des himmelstürmenden Löwen nicht spüren. Ich sage das, ohne den Wert der Dame im mindesten herabzusetzen, den ich wahrlich hoch genug anschlage, da ich sie zu Ihrer Frau berufen glaubte. Allein wenn ich sie für würdig hielt, Ihre Frau zu werden, so halte ich sie darum noch nicht für fähig, Ihre Freundin zu sein. Beides verlangt ganz verschiedene Eigenschaften. Also noch einmal: verlassen Sie diesen gefährlichen Boden, denn Sie sehen mir stark danach aus, große Torheiten begehen zu wollen; zur Belästigung anderer und zu Ihrer eigenen bitteren Enttäuschung.

So, nun habe ich meine Seele gerettet. Jetzt tun Sie, was Sie wollen, oder vielmehr, was Sie müssen; denn das Schicksal wird schon wissen, was es mit Ihnen vorhat. Ich schwaches Menschenkind vermag nicht mehr, als Ihnen meinen Herzenswunsch auf den Weg mitzugeben: Sie möchten Ihr hohes Lebensziel, das Sie ganz sicher erreichen werden, nicht mit allzu grausamen Wunden erkaufen müssen. Also ich hoffe, Sie nicht wiederzusehen. Und grüßen Sie mir Ihre herrliche Imago.

Ihre Ihnen in Freundschaft und Ehrerbietung ergebene

Martha Steinbach


Nachschrift: Und geben Sie acht, daß die irdischen Weiber nicht Ihrer ›scherzen‹!


Nichts nützen? wiederholte Viktor, nachdem er den Brief gelesen hatte. Warum nichts nützen? Dadurch unterscheidet sich doch der Mensch vom Maultier, daß er einen gescheiten Rat annimmt. Liebe Freundin, Sie haben einfach recht. Was tue ich hier? was geht mich überhaupt das ganze verpfuschte, verheiratete Dämchen an? Fertig! beschlossen! bleibts dabei: ich will sie meiden, ich will abreisen. Das heißt natürlich, sobald ich meinen alten Freunden und Schulgenossen den schuldigen[302] Gruß werde abgestattet haben. Denn ob ich die Dame schon meiden will, flüchten vor ihr, angstvoll flüchten wie ein christlicher Jüngling vor der Versuchung, das denn doch nicht; dazu habe ich denn doch wahrlich keine Ursache. Sollte also vielleicht der Zufall es fügen, daß ich ohne mein Zutun mit ihr zusammentreffe, um so schlimmer für sie.

Und ein kleines, krummes Wünschlein wurmte zuunterst in seiner Seele, der Zufall möchte es fügen.

Quelle:
Carl Spitteler: Gesammelte Werke. 9 Bände und 2 Geleitbände, Band 4, Zürich1945–1958, S. 267-303.
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