|
[419] O weh mir armen Mutter!
O unglückselig Kind,
Daß in der Wehenstunde
Wir nicht verschmachtet sind!
O schlage nicht dein Auge
So froh zum Morgenrot!
Das Weib, das dich geboren
War ihres Gatten Tod!
O blicke nicht so suchend
Aus deiner Wieg' umher:
Den du so gierig suchest,
Dein Vater ist nicht mehr!
Er liebte fremde Dirnen
Samt der verhaßten Brut,
Mehr als die Angetraute,
Mehr als sein eigen Blut;
[419] Ach Gott! da übermannte
Mich Eifersucht und Schmerz;
Dies blanke Messer stieß ich
Dem Schlafenden ins Herz!
Mit deines Vaters Blute
Färbt' ich dies Messer rot!
Mit meinem Blute färb' ich
Das Henkereisen rot!
Neun lange Jammermonde
Wardst du für Schmach und Not
In diesem Kerker reifer,
Ich aber für den Tod!
Noch eh' ich meinen Namen
Dich stammeln hören kann,
Schleppt mich zum Blutgerichte
Die Rache schon hinan.
Bei Menschen, armes Würmchen!
Lass' ich dich nun allein!
Sie werden taub wie Steine
Bei deinem Jammer sein!
Dir Herz und Pforte schließen
Und, statt des Trostes, gar
Dich foltern mit der Frage,
Wer deine Mutter war?
Und weh dir, wenn du Rache
Gleich deiner Mutter übst,
Dir selbst, des großen Rächers
Uneingedenk, sie giebst!
Drum Thränen und Gebete
Und Segen über dich!
Ihn, den ich selbst mir raubte,
Den Segen über dich!
[420] An diesen Mutterbusen
Komm' dann zum letztenmal
Und schlürfe du dir Labung
Aus dieser Brust voll Qual!
Vergebens streckst du wieder
Die Händchen aus nach mir
Und nimmermehr wird Labung
An diesem Busen dir!
Ach! wer wird künftig Vater,
Wer wird die Mutter sein?
Ihn deckt ein Kirchhofhügel,
Und mich der Rabenstein.
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro