Worte

[109] Man hatte uns Worte vorgesprochen,

die von nackter Schönheit und Ahnung

und zitterndem Verlangen übergiengen.

Wir nahmen sie, behutsam wie fremdländische Blumen,

die wir in unsrer Knabenheimlichkeit aufhiengen.

Sie versprachen Sturm und Abenteuer,

Überschwang und Gefahren und todgeweihte Schwüre –

Tag um Tag standen wir und warteten,

daß ihr Abenteuer uns entführe.

Aber Wochen liefen kahl und spurlos,

und nichts wollte sich melden, unsre Leere fortzutragen.

Und langsam begannen die bunten Worte zu entblättern.

Wir lernten sie ohne Herzklopfen sagen.

Und die noch farbig waren, hatten sich von Alltag

und allem Erdwohnen geschieden:

Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln

in einem märchenblauen Frieden.

Wir wußten:

sie waren unerreichbar wie die weißen Wolken,

die sich über unserm Knabenhimmel vereinten,

Aber an manchen Abenden geschah es,

daß wir heimlich und sehnsüchtig

ihrer verhallenden Musik nachweinten.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 109.
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