Gratia Divinae pietatis adesto savinae de Petra dura perquam sum facta figura

[179] (Alte Inschrift am Straßburger Münster)


Zuletzt, da alles Werk verrichtet,

meinen Gott zu loben,

Hat meine Hand die beiden Frauenbilder

aus dem Stein gehoben.

Die eine aufgerichtet,

frei und unerschrocken –

Ihr Blick ist Sieg,

ihr Schreiten glänzt Frohlocken.

Zu zeigen, wie sie freudig

über allem Erdenmühsal throne,

Gab ich ihr Kelch und Kreuzesfahne und

die Krone.

Aber meine Seele, Schönheit ferner Kindertage

und mein tief verstecktes Leben

Hab ich der Besiegten,

der Verstoßenen gegeben.

Und was ich in mir trug an Stille,

sanfter Trauer und demütigem Verlangen

Hab ich sehnsüchtig

über ihren Kinderleib gehangen:

Die schlanken Hüften ausgebuchtet,

die der lockre Gürtel hält,

Die Hügel ihrer Brüste

zärtlich aus dem Linnen ausgewellt,

Ließ ihre Haare über Schultern hin

wie einen blonden Regen fließen,[180]

Liebkoste ihre Hände, die das alte Buch

und den zerknickten Schaft umschließen,

Gab ihren schlaffen Armen die gebeugte Schwermut

gelber Weizenfelder, die in Julisonne schwellen,

Dem Wandeln ihrer Füße die Musik von Orgeln,

die an Sonntagen aus Kirchentüren quellen.

Die süßen Augen

mußten eine Binde tragen,

Daß rührender durch dünne Seide

wehe ihrer Wimpern Schlagen.

Und Lieblichkeit der Glieder,

die ihr weiches Hemd erfüllt,

Hab ich mit Demut

ganz und gar umhüllt,

Daß wunderbar

in Gottes Brudernähe

Von Niedrigkeit umglänzt

ihr reines Bildnis stehe.[181]

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 179-182.
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