Baldurs Tod

[169] Starr stand er,

Den Todespfeil im Herzen,

Weiße Rosenblüten im blonden Haar,

Stand und wankte nicht.

Jähes Grauen lähmte die Himmel, und ein Schluchzen trug

Zitternd der Abendwind durch dämmernde Welten.

Um seine Füße schlug die Abendsonne,

Die Wolkenwehre niederrauschend, goldne Wogen.

Vom Ost

Trotzig den Blick gesenkt wuchs Loki aus der Nacht.


»Hört ihr das Lied, das Weltenschicksalslied?

Wie Wetterschlag gellt's durch zermorschte Saiten.

Wild rauscht die Esche auf,

Urds Lippen beben.

Auf Flammenrossen peitscht im Sturm die Nacht.

Die letzte Nacht, die Schicksalshochzeitsnacht:

Eckpfeiler bersten, Balken stieben –

In Feuermeeren sinkt die alte Welt ...[169]

Hört ihr das Lied, das Weltenschicksalslied?

Hell schwillt es auf. Aus seinem Rauschen

Glüht neuer Welten neues Morgenrot.

Und neues Leben quillt aus meinem Blut

In roten Kelchen. Stirbt und blüht –

Und stirbt ... Bis einst

Ein großer Sonntag allen Welten dämmert:

Da braust ein einig Glockenläuten durch die Luft.

Heilige Choräle

Reicht ewiger Morgenglanz von Hain zu Hain,

Und alles Leben ist

Ein einzig hehres Opferfest von Licht und Liebe.«

Aufschauernd brach er auf das Purpurlager.

Krampfend griff

Die Hand zum letzten Male in das Quellgold,

Das um ihn flutete und ließ es breit

Und leuchtend durch die starren Finger rieseln.

Funkensplitter stoben klingend durch den Abend,

Heißes Wundenblut

Troff durch die Wolken nieder – Sonnensamen

Knospen zu zeugen roter Zauberblüten.

Ein greller Windstoß prasselt in die Glut ...

Ein Schrei ... Und Nacht ...

Und Baldur tot.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 169-170.
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