Dämmerung in der Stadt

[188] Der Abend spricht mit lindem

Schmeichelwort die Gassen

In Schlummer und der Süße

alter Wiegenlieder,

Die Dämmerung hat breit

mit hüllendem Gefieder

Ein Riesenvogel sich

auf blaue Firste hingelassen.


Nun hat das Dunkel von den Fenstern

allen Glanz gerissen,

Die eben noch beströmt

wie veilchenfarbne Spiegel standen,

Die Häuser sind im Grau,

durch das die ersten Lichter branden

Wie Rümpfe großer Schiffe,

die im Meer die Nachtsignale hissen.


In späten Himmel tauchen Türme

zart und ohne Schwere,

Die Ufer hütend,

die im Schoß der kühlen Schatten schlafen,

Nun schwimmt die Nacht

auf dunkel starrender Galeere

Mit schwarzem Segel

lautlos in den lichtgepflügten Hafen.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 188-189.
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