Evokation

[193] O Trieb zum Grenzenlosen,

abendselige Stunde,

Aufblühend über den entleerten Wolkenhülsen,

die in violetter Glut zersprangen,

Und Schaukeln gelber Bogenlampen,

hoch im Bunde

Mit lauem Flimmer sommerlicher Sterne.

Wie ein Liebesgarten nackt und weit

Ist nun die Erde aufgetan ... o, all die kleinen

kupplerischen Lichter in der Runde ...

Und alle Himmel haben

blaugemaschte Netze ausgehangen –

O wunderbarer Fischzug

der Unendlichkeit!

Glück des Gefangenseins,

sich selig, selig hinzugeben,

Am Kiel der Dämmerung hangend

mastlos durch die Purpurhimmel schleifen,

Tief in den warmen Schatten

ihres Fleisches sich verschmiegen,

Hinströmen, über sich den Himmel,

weit, ganz weit das Leben,

Auf hohen Wellenkämmen treiben,

nur sich wiegen, wiegen –

O Glück des Grenzenlosen,

abendseliges Schweifen!

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 193-194.
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