La Querida

[200] Deine Umarmungen sind wie Sturm,

der uns über Weltenabgründe schwenkt,

Deine Umarmungen sind wie wildduftender Regen,

der das Blut mit Traum und Irrsein tränkt.

Aber dann ist Tag. Nachtschwere Augen brechen auf,

herwankend aus goldner Vernichtung und Tod,

Durch Ströme dunklen Bluts rausch ich zurück

wie Ebbe, fühle schneidend eine Not,

Höre deines Herzens Schlag an meinem Herzen klopfen

und weiß doch: du bist ganz fern und weit.

Fühle: überm Feuer dieser Lust, die wir entfacht,

weht eine Traurigkeit,

Näher an dir! Gewölk, das meinem stillern

Tagverlangen dein Gesicht entzieht,

Fremdes, darein du flüchtest, drin sich deine Inbrunst,

ferne Liebeslitaneien betend, niederkniet,

Herzblut, das tropft, verschollene Worte,

Streichen über heiße Stirn, Finger gefaltet,

Blicke zärtlich tauend, die ich nie gekannt –

Grenzenloses streckt sich wie ein undurchdringlich

tiefes, dämmerunggefülltes Land,

Gärten, zugewachsen, die ins Frühlicht eingeblüht

bei deiner Seele stehn –

Ich weiß: du müßtest über hundert Brücken,

weite zugesperrte Straßen gehn,

Rückwärts,

in dein Mädchenland zurück,

Müßtest deine Hand

mir geben und das lange Stück[201]

Mit mir durchwandern,

bis Erinnerung, Lust und Wehe dir entschwänden,

Und wir in morgendlich begrünten Furchen

vor dem Tal des neuen Aufgangs ständen ...

Aber du blickst zurück. Schrickst auf und schauerst.

Lächelst. Und deine Lippen sinken,

Geflügel wilder Schwäne, über meinen Mund,

als wollten sie sich um Erwachen

und Besinnung trinken.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 200-202.
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