Das Häuschen von Zuckerwerk.

[92] Zwei Kinder hatten sich im Walde verirret und starben fast vor Hunger und Müdigkeit. Endlich erblickten sie ein kleines Häuschen, und, o Freude! es war ganz von Zuckerwerk. Statt der Dachziegel dienten gemandelte Lebkuchen, und die Thüre und Fensterläden waren gleichfalls große braune Lebkuchen. Hurtig fingen sie an zu schmausen, und da sie von den Wänden nicht viel abnagen konnten, bestiegen sie das Dach und speiseten von den Dachziegeln. Es wohnte aber eine böse Hexe und Kinderfresserin in dem Häuschen, die, als sie das Geräusch hörte, herauskam, um zu[92] sehen, was es gäbe. Die Kinder versteckten sich noch zu rechter Zeit, da aber der Hunger und die Süssigkeit der Dachdeckung sie immer wieder zurückführte, erwischte sie das böse Weib doch, und nahm sie ohne Gnade gefangen. Aha! sprach sie, lange habt ihr von meinem Hause geschmauset, und nun schmause ich euch. Vergebens baten Gretchen und Fritz um Erbarmen. Sie wurden hinein geführt. Ach! wir sind gar nicht fett, gnädigste Frau Hexe, bat Gretchen, lassen sie uns nur noch einige Tage leben, bis wir fetter sind. Ja, ja, sprach die Alte, das laß ich mir gefallen; und so sperrte sie beide in ein Kämmerchen und fütterte sie mit Rosinen und Mandeln. Am andern Tage befahl sie Gretchen ihren Finger durch das kleine Fenster heraus zu strecken, um zu sehen, ob sie schon fett geworden sind. Gretchen steckte geschwind ein Hölzchen heraus, die Alte biß hinein und meinte sie wäre auch gar zu dürre. So gings einige Tage fort, und Gretchen täuschte sie immer so. Einmal traf sichs aber, daß die Hexe Fritzen den Befehl gab, den Finger vorzuzeigen, der es nicht that. Ei was, schrie sie, jetzt seid ihr fett genug, nur heraus, der Ofen ist gerade geheizt, und so zog sie die armen Kinder von den Rosinen und Mandeln zum Tode. Setzt euch auf die Ofengabel, befahl sie, daß ich euch[93] in dem Ofen schiebe. O gnädigste Frau Hexe, bat Gretchen, zeigen sie es nur wie man es macht. Die Alte setzte sich auf die Ofengabel. Hurtig griffen die Kinder zu, schoben die Kinderfresserin in den Ofen, daß sie verbrannte, und behielten nun das ganze schöne Häuschen von Zucker.

Quelle:
Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 92-94.
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