Furchtsame Personen soll man nicht ängstigen.

[228] Es ist nicht gut Furchtsame zu ängstigen und zu necken, denn sehr oft schon haben Schreck und Entsetzen den traurigsten Einfluß auf die Gesundheit, ja selbst auf das Leben furchtsamer Personen gehabt; und viele Beispiele beweisen, daß zu große Furcht auf der Stelle tödten kann. Ein Arzt hatte ein Skelett in seinem Studierzimmer aufgehängt; eine Magd, welche in seinem Hause diente, äusserte laut, daß sie dieses Zimmer nur mit Schaudern betrete, um es zu reinigen. Sogleich waren einige vorlaute junge Leute bereit, sie recht zu ängstigen, und lockten, in des Arztes Abwesenheit, sie unter einem Vorwande, in der Abenddämmerung, in das Zimmer, dann gingen sie heraus und verschloßen die Thüre. Als sie spät erst wieder nach ihr sahen, und sie aus dem Zimmer gehen ließen, fanden sie dieselbe im heftigsten Fieberanfall, und mehrere Wochen hindurch mußte sie das Bette hüten. Ein Mann, der eine solche Abneigung von Katzen hatte, daß er Anfälle von Ohnmachten bei der Annäherung einer derselben bekam, ward von einigen seiner Bekannten, welche den Einfall hatten[229] ihn von diesem Widerwillen heilen zu wollen, in ein Zimmer verschloßen, in welchem sich eine Katze befand; und eine langwierige Krankheit war die Folge dieser Unbesonnenheit. Ein Frauenzimmer, welches sehr furchtsam war, und eine schwächliche Gesundheit hatte, ließ sich von leichtsinnigen Bekannten überreden, der Hinrichtung eines Verbrechers, der geköpft werden sollte, zuzusehen; und dieser entsetzliche Anblick wirkte so mächtig auf sie, daß sie schwermüthig ward und nach einem Jahre starb. Ein Student bezog eine Wohnung in einem Hause, in welchem, nach der Sage, ein Gespenst umherging. Da er nicht furchtsam war, achtete er nicht auf das einfältige Gerede. In der ersten Nacht war alles ruhig; in der zweiten hörte er Kettengerassel und Aechzen. Er blieb indeß in seinem Zimmer, legte aber von nun an zwei geladene Pistolen auf den Tisch vor seinem Bette, wenn er sich niederlegte. So vergingen einige Nächte; da er sich aber nicht irre machen ließ, kam endlich ein ungeheures Gespenst in sein Zimmer und gerade auf ihn zu. Augenblicklich ergriff er ein Pistol und zielte nach den Beinen des Gespenstes, welches auch von dem Schroot getroffen, zu Boden sank. Sogleich eilte der Student hinzu, entlarvte den Geist, und siehe da! es war der nächste Nachbar des Hausherrn, den er schon durch die[230] Furcht aus dem Hause vertrieben. Er hatte die Spuckgeschichte nur ersonnen, um das Haus seinem Eigenthümer zu verleiden und in üblen Ruf zu bringen, und es so für ein geringes Geld zu bekommen. Da sein Haus mit diesem durch eine Thüre, die er zum Scheine geschlossen, in Verbindung stand, konnte er seinen bübischen Plan sehr gut ausführen. Die Strafe blieb aber, wie wir gesehen, nicht aus, und er ward nicht allein von der Obrigkeit zur Rechenschaft gezogen und bestraft, sondern mußte auch zeitlebens an der Krücke gehen, da das eine Bein nicht mehr wiederherzustellen war. Einst neckten muthwillige Knaben, einen ihrer Spielkameraden, welcher sehr furchtsam war, und gaben ihm dieser Schwachheit wegen, lächerliche Beinamen. Andere riethen ihn, das nicht so hingehen zu lassen, sondern einen recht großen Beweis von Herzhaftigkeit zu geben, und dieser sollte darin bestehen, daß er um Mitternacht auf den Kirchhof ginge und ein Tuch auf ein frisches Grab breitete. Früh, am Morgen wollten sich die andern überzeugen, ob er wirklich da gewesen. Er ging es ein, aber je näher der Abend heran kam, um desto ängstlicher ward er; doch überwand er sich, stand um Mitternacht auf, und ging auf den Kirchhof, das Tuch auf ein Grab hinzubreiten. Unterdessen hatte einer der Knaben, welcher[231] sehr gut auf Stelzen gehen konnte, ein weißes großes Betttuch um sich genommen, und als der Furchtsame, nachdem er das Tuch ausgebreitet, fortgehen wollte, schritt diese lange weiße Gestalt, welche er für nichts weniger, nichts mehr, als einen Geist hielt, auf ihn zu. Augenblicklich sank er, vom Schlage getroffen, tod nieder. Man kann sich den Schrecken und die Angst der Knaben denken! Auf einen derselben wirkte dieser Vorfall so heftig, da er sich Vorwürfe über seine Lieblosigkeit und Unbesonnenheit machte, daß er eine Anlage zum Tiefsinn bekam, die ihn nie verließ.

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Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 228-232.
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