146.

[305] »Gottfried Rudel, Prinz von Blaya, ein sehr vornehmer Herr, verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, weil er von Pilgern, die aus Antiochia zurückkehrten, sehr viel Gutes und Ritterliches über sie vernommen hatte, und dichtete auf sie viele Lieder mit schönen Weisen und schlichten Worten. Aus Sehnsucht sie zu sehen, nahm er das Kreuz und schiffte sich ein, um zu ihr zu fahren. Unterwegs befiel ihn eine schwere Krankheit, so daß ihn seine Begleiter für tot hielten. Sie brachten ihn indessen in eine Herberge nach Tripolis. Man benachrichtigte die Gräfin; sie kam an sein Lager und nahm ihn in ihre Arme. Er fühlte, daß es die Gräfin war, konnte wieder hören und sehen, lobte Gott und dankte, daß er ihm das Leben so[305] lange gelassen habe, bis er sie gesehen. So starb er in den Armen der Gräfin, und sie ließ ihn im Hause der Templer zu Tripolis mit Ehren bestatten. Am selben Tage ging sie aus Schmerz um ihn und seinen Tod ins Kloster.« (Übersetzt aus einer provenzalischen Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts.)83

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 305-306.
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