44.

[266] »Vernunft, Vernunft!« ruft man den armen Verliebten zu.

Im Jahre 1760, in der bewegtesten Zeit des Siebenjährigen Krieges, schreibt Grimm (III, 107): »Es unterliegt keinem Zweifel, daß der König von Preußen den Ausbruch dieses Krieges durch den Verzicht auf Schlesien hätte vereiteln können. Wieviel Unglück hätte er dadurch verhütet! Ist das Glück eines Königs vom Besitz eines Stück Landes abhängig? War der große Kurfürst nicht ein sehr glücklicher und sehr geachteter Herrscher ohne den Besitz Schlesiens? Nach den Gesetzen der gesündesten Vernunft hätte sich der König also anders verhalten können. Aber vielleicht hätte sich Friedrich dann die Verachtung der ganzen Welt zugezogen, während er sich so, indem er alles andere dem Willen, Schlesien zu halten, opfert, unsterblichen Ruhm erworben hat.

Der Sohn Cromwells hat zweifellos das Weiseste getan, was ein Mann machen kann; er hat die ruhmlose und[266] ruhige Zurückgezogenheit der gefahrvollen Unruhe, über ein finsteres, ungestümes und stolzes Volk zu herrschen, vorgezogen. Dieser Weise ist von seinen Zeitgenossen und von der Nachwelt verachtet worden, während sein Vater im Urteile der Völker ein großer Mann geblieben ist.

Die ›schöne Büßerin‹ ist ein beliebter Stoff78 im spanischen Drama, der in den englischen und französischen Bearbeitungen durch Otway und Colardeau verhunzt worden ist. Calista ist von Lothario, den sie anbetet, vergewaltigt worden. Er ist durch den ungestümen Ehrgeiz seines Charakters hassenswert, aber durch seine Begabung, seinen Geist und seine Anmut verführerisch. Er wäre allzu liebenswert, wenn er sein strafbares Verlangen zu mäßigen verstanden hätte; übrigens trennt ein furchtbarer erblicher Haß seine Familie und die der Geliebten. Diese beiden Familien stehen an der Spitze zweier Parteien, die im schreckensvollen Mittelalter eine spanische Stadt mit Zwiespalt erfüllen. Sciolto, Calistas Vater, ist das Haupt der Partei, die augenblicklich die Oberhand hat. Er weiß, daß Lothario die ruchlose Absicht gehabt hat, seine Tochter zu verführen. Die schwache Calista erliegt den Qualen ihrer Schmach und Leidenschaft. Ihr Vater erreicht es, daß sein Feind Lothario den Oberbefehl über die Flotte erhält, die zu einer fernen und gefahrvollen Unternehmung ausläuft. Voraussichtlich wird er dabei den Tod finden. In Colardeaus Trauerspiel bringt der Vater seiner Tochter selbst diese Nachricht. Da verrät Calista ihre Leidenschaft:


›... Mein Gott! er geht ...

Ihr habt's befohlen! ... und er fügt sich drein?‹


Wie groß ist die Gefahr dieses Augenblicks! Ein Wort mehr, und Sciolto war über die Leidenschaft seiner[267] Tochter zu Lothario im klaren. Der betroffene Vater ruft aus:


›Was hör' ich? Täuscht mein Ohr mich? Rasest du?‹


Darauf antwortet Calista, die ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen hat:


›Nicht die Verbannung will ich, seinen Tod!

Er soll verderben!‹


Durch diese Worte erstickt Calista den erwachenden Verdacht ihres Vaters, und zwar ohne Betrug, denn das Gefühl, dem sie Ausdruck gegeben hat, ist echt. Die Existenz eines Mannes, den sie liebt und der ihr das Schlimmste antun konnte, muß ihr Leben vergiften, und lebte er am Ende der Welt. Allein sein Tod kann ihr die Ruhe wiedergeben, wenn es solche für unglücklich Liebende überhaupt gibt. Kurze Zeit darauf fällt Lothario, und Calista hat das Glück zu sterben.

Viel Tränen und viel Geschrei um nichts! haben jene kalten Naturen, die sich mit dem Namen Philosophen schmücken, gesagt. Ein kühner, gewalttätiger Mann nützt die Schwäche aus, die eine Frau ihm gegenüber zeigt. Was braucht man sich darüber aufzuregen, und warum soll uns der Seelenschmerz Calistas etwas angehen? Sie mag sich damit trösten, daß ihr Geliebter sie besessen hat. Und sie ist nicht die einzige anständige Frau, die ihren Trost in solchem Unglück findet.«

Richard Cromwell, Friedrich der Große und Calista können mit den Seelen, die der Himmel ihnen verlieh, ihre Ruhe und ihr Glück nur dann finden, wenn sie so handeln, wie sie gehandelt haben. Das Verhalten der beiden zuletzt Genannten ist außerordentlich unvernünftig, und doch achtet man von den dreien gerade sie.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 266-268.
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