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[288] Ich nenne Freude jede Wahrnehmung der Seele, die sie lieber empfinden, als nicht empfinden möchte, und Schmerz jede Wahrnehmung, die sie lieber nicht empfinden, als empfinden möchte. (Maupertuis.)

Wenn ich lieber einschlafen möchte, als das empfinden, was ich gerade empfinde, so leide ich. Folglich ist die Liebessehnsucht kein Leid, denn der Liebende verläßt die angenehmste Gesellschaft, um sich ungestört seinen Träumereien hinzugeben.

Durch lange Dauer werden körperliche Freuden vermindert, Leiden vergrößert. Seelische Freuden hingegen vergrößern oder vermindern sich je nach der Dauer der Leidenschaft; seelische Leiden werden durch die Zeit abgeschwächt. Wie viele untröstliche Witwen trösten sich mit der Zeit.

Nehmen wir einen Mann, der sich im Zustande der Gleichgültigkeit befindet, und es widerfährt ihm eine Freude. Ein anderer Mann befindet sich in einem Zustande heftigen Schmerzes, und dieser Schmerz hört plötzlich auf. Ist nun die Freude beider Menschen von gleicher Beschaffenheit? Ich sage: nein.

Nicht alle Freuden entstehen aus dem Aufhören des Schmerzes. Jemand, der lange Zeit hindurch sechstausend Franken Jahreseinnahme gehabt hat, gewinnt fünfhunderttausend Franken in der Lotterie. Dieser[288] Mann war nicht daran gewöhnt, nach Dingen zu trachten, die man nur mit einem großen Vermögen erlangen kann. (Ich will beiläufig bemerken, daß es einer der Nachteile des Pariser Lebens ist, diese Gewohnheit mit Leichtigkeit zu verlieren.)

Man hat eine Maschine zum Schneiden der Gänsefedern erfunden. Ich habe sie mir heute vormittag gekauft. Sie macht mir große Freude, denn ich hatte zum Federnschneiden keine Geduld. Aber trotzdem war ich gestern, wo ich diese Maschine noch nicht kannte, nicht unglücklich. War Petrarca unglücklich darüber, daß er den Kaffee nicht kannte?

Wozu das Glück definieren? Jedermann kennt es. Wir fühlen es, wenn wir das erste Rebhuhn im Fluge erlegt haben, wenn wir gesund und munter aus dem ersten Gefecht heimkehren ...

Die Freude über das Aufhören eines Schmerzes ist sehr flüchtig, und die Erinnerung daran nicht einmal immer angenehm. Einer meiner Kameraden wurde in der Schlacht bei Borodino durch einen Granatsplitter in der Hüfte verwundet. Nach einigen Tagen drohte das Wundfieber. Schnell wurden Beclard, Larrey und ein paar andre berühmte Chirurgen zusammenberufen. Eine Beratung fand statt, deren Ergebnis meinem Freunde kund tat, es sei kein Wundfieber. In jenem Augenblicke beobachtete ich, daß er glücklich war. Sein Glück war groß, aber nicht ungetrübt. Im geheimen nagte an seiner Seele der Argwohn, daß er doch noch nicht über alle Gefahr hinaus sei. Er wollte den Ärzten nicht recht trauen und machte sich über ihre Glaubwürdigkeit Gedanken. Immer wieder dachte er an die Möglichkeit des Wundfiebers. Wenn man ihm heute nach zehn Jahren[289] jene ärztliche Beratung erwähnt, hat er eine schmerzliche Empfindung. Sofort übermannt ihn die Erinnerung an das erlebte Unglück.

Die Freude über das Aufhören eines Schmerzes besteht darin:

erstens, über alle Einwände unseres Inneren obzusiegen,

zweitens, alle verlorenen Vorteile wieder zu haben.

Die Freude über einen Gewinn von fünfhunderttausend Franken besteht darin, sich alle die neuen und außergewöhnlichen Genüsse in der Phantasie vorzustellen, die man sich nun verschaffen wird.

Eine seltsame Ausnahme gibt es. Man muß in Betracht ziehen, ob der Gewinner sich vordem in zu hohem oder in zu geringem Maße ein großes Vermögen erträumt hat. Hat er keine großen Wünsche gehabt, und ist er ein beschränkter Kopf, so wird er zwei bis drei Tage überhaupt gar nicht wissen, was er mit dem Gelde anfangen soll. Hat er zu große Wünsche gehabt, so hat er sich allen Genuß bereits vorweg genommen, er hat sich den Genuß zu lebhaft ausgemalt.

Dieses Unglück gibt es in der Liebe aus Leidenschaft nicht. Ein hell loderndes Herz denkt nicht an die letzte, höchstens an die nächste Gunstbezeugung der Geliebten. Hat sie uns grausam behandelt, so sehnen wir uns nach einem Händedruck von ihr. Weiter hinaus hegt die Phantasie keine Wünsche. Will man sie dazu zwingen, so läßt sie uns schnell im Stich, aus Furcht, die Geliebte zu entweihen.

Hat die Freude ihr Ende gefunden, so sinken wir natürlich in den Zustand der Gleichgültigkeit zurück. Aber diese Gleichgültigkeit ist eine andere als früher.[290] Der zweite Zustand unterscheidet sich von dem ersten dadurch, daß wir vorher empfänglicher für den Genuß waren und daß wir mit mehr Entzücken das Glück genießen konnten. Jetzt sind die genießenden Organe ermattet, und unsere Phantasie hat keine Neigung mehr, jene Gedanken wachzurufen, die das nun befriedigte Begehren reizten.

Wenn man uns dagegen mitten im Glück dem Genusse entreißt, fühlen wir Leid.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 288-291.
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