12. Entstehung der Liebe; Gesellschaft und Unglück

[28] Das Wunderlichste an der Leidenschaft der Liebe ist ihre Entstehung, der plötzliche närrische Wandel, der sich im Hirne eines Liebenden vollzieht.

Die große Gesellschaft mit ihren glänzenden Festen begünstigt die Liebe, insofern sie ihre Entstehung fördert.

Sie beginnt damit, die bloße Bewunderung in zärtliche Verehrung zu verwandeln.

Ein rascher Walzer in einem von tausend Kerzen erleuchteten Saale versetzt junge Herzen in einen Taumel, der die Zaghaftigkeit besiegt, das Bewußtsein der Kräfte steigert und den Mut zum Lieben gibt. Der Anblick eines liebenswerten Wesens genügt dazu nicht, im Gegenteil, gerade der vollendetste Liebreiz entmutigt zarte Seelen. Entweder bedürfen wir der Überzeugung, daß uns solch ein Geschöpf bereits liebt, oder irgend etwas muß uns seine Unnahbarkeit überwinden helfen.

Wer gerät auf den Einfall, sich in eine Königin zu verlieben, wenn sie uns nicht selbst dazu ermutigt?5

Nichts begünstigt die Entfaltung der Liebe mehr als eine langweilige Einsamkeit, die von ein paar seltenen, lang ersehnten Festlichkeiten unterbrochen wird. Gewandte Mütter mit Töchtern verstehen das.

Die wirkliche große Gesellschaft, wie sie am französischen[28] Hofe bestand6 und nach meiner Meinung seit 1780 nicht mehr (außer vielleicht noch am Petersburger Hofe) vorhanden ist, fördert die wahre Liebe wenig, weil sie die Einsamkeit und Muße, die zur Kristallbildung nötig sind, geradezu unmöglich macht.

Das Hofleben gibt Gelegenheit, zahlreiche Nuancen zu beobachten und zu betätigen, und oft wird solch eine flüchtige Wahrnehmung zum Ursprung unserer Bewunderung und Leidenschaft.7

Wenn zu dem durch die Liebe bereiteten Unglück noch anderweitiges Mißgeschick hinzutritt, (wenn zum Beispiel unsere Eitelkeit gekränkt wird, indem die Geliebte unseren berechtigten Stolz oder unser Ehrgefühl oder unsere persönliche Würde verletzt, oder wenn unser Unglück durch Krankheit, Geldverlegenheit oder durch politische Unduldsamkeit hervorgerufen ist,) so wird die Liebe nur scheinbar durch diese Widerwärtigkeiten vergrößert. In Wirklichkeit aber verhindern diese, indem sie unsere Gedanken nach anderer Richtung hin ablenken, in einer aufkeimenden Liebe die Kristallbildung und in der bereits erhörten Liebe das Entstehen kleiner Zweifel. Erst wenn das Unglück vorüber ist, kehrt die Wonne der Liebe zugleich mit ihrer Torheit zurück.

Beachtenswert ist es, daß Mißgeschick die Entstehung der Liebe bei leichtfertigen und wenig feinfühligen Charakteren erleichtert. Wenn das Unglück schon eingetreten ist, bevor die Liebe entstand, so fördert es diese insofern, als sich die Phantasie aus Ekel vor all den trübseligen Bildern des Lebens nur noch der Kristallbildung widmet.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 28-29.
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