38. Von den Heilmitteln der Liebe

[123] Der Sprung vom leukadischen Felsen ist ein schönes Gleichnis aus dem klassischen Altertum. In der Tat gibt es kaum ein Heilmittel gegen die Liebe. Es bedarf nicht nur der Gefahr, die des Menschen Aufmerksamkeit lebhaft auf seine Selbsterhaltung richtet,36 sondern auch, was viel schwieriger ist, einer andauernden, nervenreizenden Gefahr, deren Abwehr Geschicklichkeit verlangt, um dem Gedanken an die Selbsterhaltung Zeit zur Entwicklung zu lassen. Dazu genügt allenfalls ein sechzehntägiger Sturm, wie ihn Byrons Don Juan erlebt, oder ein Schiffbruch wie der Cochelets bei den Mauren. Sonst gewöhnt man sich sehr rasch an die Gefahr und man beginnt sogar an die Geliebte mit noch größerem Entzücken zu denken, wenn man zwanzig Schritte vom Feind entfernt auf Vorposten steht.

Ich habe unaufhörlich wiederholt, daß einem aufrichtig liebenden Manne alle Gebilde seiner Phantasie entweder Genuß oder Furcht einflößen, während es in der Natur nichts für ihn gibt, das ihm nicht von der Geliebten spricht. Nun aber sind Genuß und Furcht Beschäftigungen, die uns ganz in Anspruch nehmen und vor denen alle anderen verblassen.

Ein Freund, der dem Liebeskranken Heilung verschaffen will, muß sich vor allem immer auf die Seite der geliebten Frau stellen. Aber Freunde, die mehr Eifer als Geist besitzen, schlagen gewöhnlich den entgegengesetzten Weg ein. Mit lächerlich ungleichen Waffen greifen sie[123] jenes Werk lieblicher Illusionen an, das ich Kristallbildung genannt habe.

Der helfende Freund muß im Auge behalten, daß ein Liebender, dem man das Unglaublichste zu glauben zumutet, es entweder ruhig hinnehmen oder auf alles, was ihn ans Leben kettet, verzichten muß. Er wird alles anhören und doch, wenn er noch so geistvoll ist, die offenkundigsten Laster und die schlimmste Untreue der Geliebten in Abrede stellen. Darum ist in der Liebe aus Leidenschaft nach kurzer Zeit alles verzeihlich.

Bei Verstandesmenschen und kalten Naturen müssen erst mehrere Monate der Leidenschaft vergangen sein, ehe sie Fehler bemerken dürfen und ruhig hinnehmen.

Der heilende Freund darf den Liebenden keinesfalls auf grobe und deutliche Art zu zerstreuen suchen, er muß vielmehr bis zum Überdruß von seiner Liebe und seiner Geliebten sprechen und gleichzeitig dicht um ihn herum eine Menge kleiner Ereignisse sich abspielen lassen. Eine einsame Reise ist kein Heilmittel. Ich habe einmal fast alle Tage geweint. Und nichts erinnert zärtlicher an die Geliebte als Gegensätze. »Gerade in den glänzendsten Salons in Paris, mitten unter den ob ihres Liebreizes gerühmten Frauen habe ich meine arme einsame trauernde Geliebte in ihrem armseligen Hause fern in der Romagna am glühendsten geliebt,« bekennt Salviati.

Ich erspähte auf der kostbaren Stutzuhr des glänzenden Salons, in den ich verbannt war, die Stunde, wo sie zu Fuß und im Regen ausging, um ihre Freundin zu besuchen. Während ich sie zu vergessen suchte, machte ich die Beobachtung, daß Gegensätze die Quelle von Erinnerungen sind, die wohl weniger lebhaft, aber viel[124] himmlischer sind als die an Orten, wo man der Geliebten einstmals begegnet ist.

Wenn die Abwesenheit etwas nützen soll, muß der heilende Freund immer zur Stelle sein und den Liebenden auf alle möglichen Gedanken über die Ereignisse seiner Liebe bringen. Er muß diese Gedanken durch ihre Länge oder durch ihren ungünstigen Zeitpunkt langweilig zu machen und ihnen sozusagen die Wirkung eines Gemeinplatzes zu geben suchen; zum Beispiel, indem er nach einem fröhlichen Mahle bei gutem Wein plötzlich wehmütig und gefühlvoll wird.

Darum ist es so schwer, eine Frau, bei der wir glücklich waren, zu vergessen, weil es gewisse Augenblicke gibt, die unsere Phantasie unermüdlich immer wieder zurückruft und vergoldet.

Ich spreche nicht vom Stolze, diesem grausamen und allmächtigen Heilmittel; es steht zarten Seelen nicht zu Gebote.

Die ersten Szenen in Shakespeares »Romeo und Julia« sind ein bewundernswertes Gemälde. Welch ein großer Unterschied ist zwischen dem Manne, der sich traurig sagt: »She hath forsworn to love!« und dem, der auf dem Höhepunkt des Glückes ausruft: »Come what sorrow can!«

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 123-125.
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