40. Allgemeines

[130] Immer trägt alle Phantasie und Liebe eines Menschen die Farbe eines der sechs Temperamente; sie ist:

sanguinisch in Frankreich (Herr von Francueil, Memoiren der Frau von Epinay), cholerisch in Spanien (Lauzun oder Peguilhen in den Memoiren von Saint-Simon),

melancholisch in Deutschland (Schillers Don Carlos),

phlegmatisch in Holland,

nervös (Voltaire),

athletisch (Milon von Kroton).37

Wenn der Einfluß des Temperaments schon im Ehrgefühl, im Geiz und in der Freundschaft hervortritt, so muß er sich erst recht in der Liebe geltend machen, die eine starke Beimischung vom Physischen hat.

Nehmen wir an, daß jede Liebe sich einer der von mir im ersten Buche aufgestellten Arten zurechnen läßt, zu der

Liebe aus Leidenschaft (Julie von Etanges),

Liebe aus Galanterie,

Liebe aus Eitelkeit,

Liebe aus Sinnlichkeit.

Lassen wir nun diese vier Arten der Liebe sich mit den sechs Spielarten des Temperaments mischen. Tiberius hatte nicht die tolle Phantasie Heinrichs des Achten.[130] Betrachten wir alsdann alle die Mischungen, die von der Verschiedenheit der Lebensweise infolge der Regierungsform oder des Volkscharakters abhängig sind; und zwar unterscheide ich da

1. den asiatischen Despotismus, zum Beispiel in Konstantinopel,

2. die absolute Monarchie, wie unter Ludwig dem Vierzehnten,

3. die durch eine Verfassung verdeckte Aristokratie: die Beherrschung eines Volkes zugunsten der Reichen, wie in England, und unter einer sozusagen biblischen Moral,

4. die konstitutionelle Monarchie,

5. die föderative Republik oder die Herrschaft aller, wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika,

6. den Staat im Zustande der Revolution, wie in Spanien, Portugal und Frankreich. Dieser Zustand eines Landes erweckt in jedem Staatsangehörigen eine lebhafte Leidenschaft, er begünstigt die Natürlichkeit der Sitten, vernichtet die Albernheiten und Scheintugenden der Konvention, die bornierten Standesvorurteile, verleiht der Jugend Ernst, läßt sie die »Liebe aus Eitelkeit« verachten und die bloße Galanterie vernachlässigen.

Dieser Zustand kann lange andauern und so die Lebensgewohnheiten eines ganzen Geschlechts bestimmen. In Frankreich begann er 1788, wurde 1802 unterbrochen, setzte sich 1815 fort und wird wer weiß wann enden.

Außer diesen allgemeinen Gesichtspunkten zur Betrachtung der Liebe kommen noch die Unterschiede des Alters und schließlich die individuellen Eigentümlichkeiten hinzu.

Zum Beispiel könnte ich sagen:[131]

Ich habe in Dresden am Grafen Wolfstein die Liebe aus Eitelkeit, das melancholische Temperament, die monarchische Lebensweise, das Alter von dreißig Jahren und gewisse individuelle Eigentümlichkeiten gefunden.

Diese Art, die Dinge zu sehen, kürzt ab und ermöglicht, was unerläßlich und sehr schwer ist, ein unparteiisches Urteil.

Wie aber der Mensch in der Physiologie fast nichts über sich selbst weiß, außer durch die vergleichende Anatomie, so können wir bei den Leidenschaften, der Eitelkeit und verschiedenen anderen Ursachen von Illusionen über das, was in uns vorgeht, nur durch die Schwächen aufgeklärt werden, die wir an anderen beobachtet haben. Wenn mein Buch überhaupt irgend einen Nutzen bringen sollte, so wäre es der, daß es zu solchen Vergleichen anregt. Um das zu tun, will ich versuchen, einige Hauptzüge des Charakters der Liebe bei den verschiedenen Völkern zu skizzieren.

Wenn ich dabei häufig Italien erwähne, so bitte ich um Nachsicht; bei dem gegenwärtigen Sittenzustande von Europa ist es das einzige Land, wo sich die von mir beschriebene Pflanze in voller Freiheit entwickelt. In Frankreich ist es die Eitelkeit, in Deutschland eine anspruchsvolle, höchst lächerliche Philosophie, in England ein ängstlicher, leidender, rachsüchtiger Stolz, der die echte Liebe quält und unterdrückt oder in eine barocke Richtung drängt.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 130-132.
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