50. In Spanien

[166] Andalusien ist eine der lieblichsten Stätten, die sich die Lebensfreude auf Erden zum Wohnsitz erwählt hat. Als die Mauren Andalusien verließen, haben sie dort ihre Baukunst und beinahe auch ihre Sitten zurückgelassen. Da ich über letztere unmöglich in der Sprache der Frau von Sévigné sprechen kann, so will ich wenigstens von der maurischen Bauweise erwähnen, daß ihr Hauptmerkmal darin besteht, jedes Haus mit einem kleinen Garten zu versehen, der von eleganten, schlanken Säulen umschlossen wird. Hier unter diesen Säulenhallen herrscht köstlicher Schatten, wenn draußen die unerträgliche Sommerhitze brütet und das Thermometer wochenlang 30° Reaumur zeigt. In der Mitte des Gärtchens befindet sich in der Regel ein Springbrunnen, dessen eintöniges, liebliches Plätschern das einzige Geräusch ist, das diese reizende Heimlichkeit belebt. Das Marmorbecken ist von einem Dutzend Orangen- und Lorbeerbäumen umgeben. Ein dichtes Zelttuch überdeckt das ganze Gärtchen und schützt es gegen die Strahlen und das Licht der Sonne, gestattet aber leichten Brisen, die um Mittag von den Bergen herwehen, das Eindringen.[166]

In diesem Raume leben die reizenden Andalusierinnen und empfangen sie ihre Besuche in einem einfachen schwarzen Seidenkleide, mit gleichfarbigen Fransen besetzt, das einen entzückenden Spann sehen läßt. Ihr Gang ist leicht und lebhaft, ihre Hautfarbe blaß, und in ihren Augen spiegeln sich die flüchtigsten Schattierungen zärtlichster und wildester Leidenschaft. So treten sie uns entgegen, diese himmlischen Geschöpfe, die ich hier nicht leibhaftig schildern kann.

Ich betrachte das spanische Volk als die lebendige Verkörperung des Mittelalters. Es weiß nichts von einer Unzahl kleiner Wahrheiten, auf die seine Nachbarn kindisch eitel sind, aber es ist um so vertrauter mit den großen und hat genug Charakter und Geist, um ihnen bis in die entferntesten Winkel zu folgen. Der spanische Charakter bildet ein schönes Gegenstück zu dem französischen Geiste; hart, jäh, wenig elegant, voll wilden Stolzes, immer rücksichtslos gegen andere, verhält er sich genau wie das fünfzehnte zum achtzehnten Jahrhundert.

Spanien reizt mich zu einem Vergleiche; das einzige Land, das Napoleon zu widerstehen verstand, erscheint mir durchaus frei von falscher Ehre und von allem, was am Ehrgefühl töricht ist. Man hat dort keine glänzenden Paraden, ändert nicht alle halbe Jahre die Uniformen und trägt keine Riesensporen.53

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 166-167.
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