Erstes Kapitel.

[5] Die kleine Stadt Verrières kann für eine der hübschesten der Freigrafschaft gelten. Ihre weißen Häuser mit Spitzdächern von roten Ziegeln schmiegen sich dem Hang einer Höhe an, deren wellige Silhouette von den Wipfeln mächtiger Kastanien getragen wird. Ein paar hundert Schritt unterhalb der ehedem von den Spaniern erbauten, heute verfallenen Befestigungen fließt der Doubs.

Gegen Norden ist Verrières2 geschützt durch einen hohen Bergrücken, einen Ausläufer des Juragebirges. Die zackigen Gipfel des Verra sind schon bei den ersten Oktoberfrösten mit Schnee bedeckt. Ein munterer Bach, dem Gebirge entsprungen, durchrauscht das Städtchen und ergießt sich in den Doubs. Sein Wasser treibt eine Menge Sägemühlen. Diese einfache Industrie gewährt dem größeren Teile der mehr städtischen denn ländlichen Einwohnerschaft ein behagliches Dasein. Indessen verdankt das Städtchen seinen Reichtum nicht den Sägemühlen, sondern der Herstellung von bunter sogenannter Mülhauser Leinwand. Infolge der allgemeinen Wohlhabenheit sind seit Napoleons Sturze fast alle Häuserfassaden von Verrières neu erstanden.

Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, gar drohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster. Sie werden durch ein Rad gehoben, das der Gebirgsbach treibt. Jeder dieser Hämmer stellt täglich viele, viele tausend Nägel her. Frische hübsche[5] Mädchen schieben den Ungetümen Eisenstreifen zu, die im Handumdrehen zu Nägeln verwandelt werden. So grob diese Arbeit ist, sie wird doch immer von den Fremden angestaunt, die zum ersten Male in die Berge zwischen Frankreich und der Schweiz kommen. Fragt man, wem die schöne Nägelfabrik gehöre, die einen halbtaub macht, wenn man die Hauptstraße dahingeht, so erhält man in der breiten Mundart der Gegend die Antwort: »Na, dem Herrn Bürgermeister!«

Wer ihn sehen will, braucht nur auf der Hauptstraße, die vom Doubs zur Höhe führt, eine Weile aufzupassen. Man kann hundert gegen eins wetten, daß alsbald ein großer stattlicher Mann mit gewichtiger Amtsmiene auftaucht, bei dessen Annäherung alle Leute flugs ihre Hüte ziehen.

Sein Haar ist ergraut. Und grau ist auch sein Anzug. Er ist Ritter mehrerer Orden. Er hat eine hohe Stirn, eine Adlernase und ein alles in allem nicht unübles Gesicht. Auf den ersten Blick findet man darin wohl die Würde des Stadtoberhauptes gepaart mit der geselligen Gewandtheit des angehenden Fünfzigers. Weltmännische Augen entdecken allerdings gar bald die unangenehmen Merkmale von Selbstzufriedenheit und Dünkel, denen sich geistige Beschränktheit und Phantasiearmut gesellen. Schließlich kommt man dahinter, daß die ganze Pfiffigkeit dieses Mannes darin besteht, sich prompt bezahlen zu lassen, was man ihm schuldet, seinen eigenen Pflichten dagegen möglichst spät nachzukommen.

So sieht also der Bürgermeister von Verrières aus: Herr von Rênal3. Hat er die Straße gravitätisch durchschritten,[6] dann verschwindet er im Rathause. Hundert Schritte weiter bergauf erblickt man ein recht stattliches Haus, daran einen großartigen Garten hinter einem schmiedeeisernen Gitter. Darüber sieht man die Kammlinie der Burgunderberge, wie zur Augenweide hingezaubert. Es ist ein Bild, vor dem der Wanderer den üblen Dunstkreis des kleinlichen Geldsinnes, der ihn eben umfangen wollte, wieder vergißt.

Man erfährt, daß dieses Haus dem Bürgermeister gehört. Die Erträgnisse seiner großen Nägelfabrik gestatten ihm diesen Prachtbau aus Hausteinen, der unlängst erst fertig geworden ist. Die Familie Rênal, angeblich alter spanischer Herkunft, war längst vor der Eroberung des Landes durch Ludwig XIV. hier ansässig.

Die Restauration von 1815 machte ihn zum Bürgermeister. Seitdem schämt sich Rênal, Fabrikant zu sein. Und doch wären die Mauern, die den herrlichen Garten in verschiedene Terrassen gliedern, bis hinab zum Doubs, ohne das kaufmännische Geschick ihres Besitzers nicht vorhanden.

Man findet in Frankreich bei weitem keine so malerischen Gärten wie im Umkreis von deutschen Handelsstädten wie Leipzig, Frankfurt, Nürnberg und andernorts. In der Freigrafschaft steigt man in der Achtung seiner Mitbürger, je mehr man Steine auf seinem Grundstücke türmt. Der Garten des Herrn von Rênal war voll solcher Bauten, obendrein aber ein Gegenstand der Bewunderung, weil gewisse kleine Parzellen des Gartens bei ihrer Erwerbung buchstäblich mit Gold aufgewogen worden waren. So lag zum Beispiel die Sägemühle, die einem am Eingang von Verrières durch ihre Lage am[7] Doubsufer und durch die am Dache angebrachte Firma mit dem Namen SOREL in Riesenlettern auffällt, noch vor sechs Jahren an der Stelle, wo man zurzeit die Mauer der vierten Rênalschen Gartenterrasse aufführt. Der Bürgermeister hat bei all seinem Hochmut manchen Gang zum alten Sorel machen müssen, einem dickköpfigen groben Bauern, und ihm reichliche Goldfüchse auf den Tisch gezählt, ehe er die Verlegung der Mühle erreichte. Dazu mußte er in Paris seinen ganzen Einfluß aufbieten, bis er die Genehmigung zur Ableitung des öffentlichen Baches bekam, der die Mühle trieb. Dieser Gnadenbeweis ward ihm nach den Wahlen von 182* zuteil.

Sorel erhielt fünfhundert Schritt abwärts am Doubs vier Morgen Land für einen. Und obgleich der neue Platz für seinen Bretterhandel weit günstiger war, so verstand es Vater Sorel – wie er jetzt in seiner Wohlhabenheit allgemein heißt – doch, seinem ungeduldigen und gebietshungrigen Nachbarn überdies sechstausend Franken abzuknöpfen.

Dieses Abkommen wurde von den durchtriebenen Spießbürgern viel bekrittelt. Und einmal, an einem Sonntage (es ist jetzt vier Jahre her), da begegnete Herr von Rênal, als er im Bürgermeisterstaat aus der Kirche kam, dem alten Sorel samt seinen drei Söhnen und merkte von weitem, wie er, seiner ansichtig, lächelte. Bei diesem Lächeln ging dem Bürgermeister eine Erleuchtung auf. Seitdem meint er, den Tausch hätte er billiger haben können.

Fußnoten

1 (Le Rouge et le Noir): Seine Erklärung siehe: Stendhal, Das Leben eines Sonderlings. Insel-Verlag 1921, S. 529. Stendhal stellt Rot als Symbol des Krieges hin, des Soldatentums, der Lebensfreude, des freien Lebens; Schwarz dagegen als Symbol der dogmatischen Kirche, der seelischen Knechtschaft, der Heuchelei, der Reaktion. Und das ganze soziale Leben erscheint ihm als ein Glücksspiel, gleichviel, ob der strebende Mensch auf Rot oder Schwarz setzt.


2 Der Dichter hat das Städtchen Pontarlier im Sinne, aber wie das seine künstlerische Art ist, mengen sich in seine Vision vom Schauplatze seiner Dichtung eine Menge Einzelheiten, die seiner Erinnerung an Grenoble entspringen. Geliebt hat Beyle seine Vaterstadt, die dem Fremden so schön erscheint, erst, als er alterte, und selbst da war es wohl mehr die Landschaft des Dauphiné, an die sich sein einsames Herz hängte. Bis 1835 war ihm Grenoble »das greulichste Spießernest auf Erden«.


3 Wie schon im Nachwort (S. 703) gesagt, war das Urbild dieser Gestalt ein Herr Michoud in Grenoble, aber viele Züge an ihr deuten darauf hin, daß auch Beyles Vater, Cherubin Beyle, den Stendhals Autobiographie so plastisch schildert (vgl. Sonderling, S. 104 ff.), stark Modell gestanden hat.


Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 5-8.
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