Einhundertunddreizehntes Kapitel.

[165] O! es ist eine selige Zeit im menschlichen Leben, jene Zeit, wo das Gehirn noch zart und breiartig wie Mus ist und sich an der Geschichte zweier Liebenden nähren kann, die grausame Eltern und das noch grausamere Schicksal von einander geschieden –

Amandus – er

Amanda – sie; –

keiner weiß von des andern Bahnen,

Er – hier

Sie – dort –

Amandus von den Türken gefangen genommen und an den Hof des Kaisers von Marokko gebracht, wo die Prinzessin von Marokko sich in ihn verliebt und ihn, weil er Amanda liebt, zwanzig Jahre lang im Gefängniß schmachten läßt.

Sie aber, Amanda, wandert diese ganze Zeit über baarfuß, mit fliegenden Haaren über Fels und Gebirg, nach Amandus suchend. – Amandus! Amandus! – Sie weckt das Echo der Hügel und der Thäler mit seinem Namen ––

Amandus! Amandus!

Am Thore jeder Stadt und jedes Städtchens sinkt sie weinend nieder: – kam mein Amandus, mein Amandus nicht dieses Weges? Endlich, nachdem sie rund, rund die ganze Welt durchwandert, treffen Beide höchst unerwartet in derselben Stunde der Nacht, aber aus verschiedener Richtung kommend, am Thore von Lyon, ihrer Vaterstadt, zusammen; mit wohlbekannter Stimme ruft Jedes von ihnen:

Amandus,/Amanda, lebst Du noch?

fliegen sich jubelnd in die Arme und – sinken todt vor Freude nieder.[165]

O! es ist eine schöne Zeit im Leben eines edlen Sterblichen, wo eine solche Geschichte dem Gehirne mehr Nahrung bietet, als die Brocken und Krümel und Ueberbleibsel des Alterthums, welche Reisende ihm aufwärmen.

Von alle dem, was Spon und andere Berichterstatter über Lyon in mich hineingegossen hatten, war dies das Einzige, was in meinem Siebe geblieben war, und als ich nun noch in einem andern Reisehandbuch, aber Gott weiß in welchem, angeführt fand, daß außerhalb der Stadt der treuen Liebe des Amandus und der Amanda ein Grabmal errichtet sei, zu dem die Liebenden bis zu dieser Stunde wallfahrten, um Gelübde zu thun, – so hatte mir von der Zeit an dieses Grab der Liebenden immerfort im Sinn gelegen, sobald ich nur in Liebesnoth gerieth, und der Gedanke daran hatte solche Gewalt über mich erlangt, daß ich an Lyon nicht denken, von ihm nicht hören, nicht eine lyoner Weste sehen durfte, ohne daß sich dieses alterthümliche Denkmal sogleich meiner Phantasie aufdrang. In meiner etwas raschen und hier wohl nicht sehr ehrerbietigen Weise hatte ich oft gesagt: ich schätzte dieses Heiligthum, wie vernachlässigt es auch sei, für ebenso werthvoll, als die Kaaba zu Mekka, und nur ein wenig minder werthvoll als die Santa Casa selbst (die Edelsteine natürlich ausgenommen), so daß ich, wenn ich auch sonst in Lyon nichts zu thun hätte, eine Pilgerfahrt unternehmen möchte, blos um es zu besuchen.

Also war dies von allem Sehenswerthen in Lyon für mich das Erste, wenn es auch auf der Liste zuletzt stand. Als ich demnach bei dem Gedanken daran ein Paar Dutzend ungewöhnlich große Schritte durch das Zimmer gemacht hatte, stieg ich ruhig in den Flur des Gasthauses hinunter, um fortzugehen; aber da es ungewiß war, ob ich zurückkommen würde, ließ ich mir vorher meine Rechnung geben. Ich hatte sie eben bezahlt, dem Dienstmädchen überdies noch zehn Sous in die Hand gedrückt und empfing gerade den letzten Glückwunsch Mr. le Blancs zu einer glücklichen Reise – als ich an der Thür aufgehalten wurde.

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 165-166.
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