Fünfundvierzigstes Kapitel.

[68] Nachdem mein Vater seinen weißen Bären ein halb Dutzend Seiten vor- und rückwärts hatte tanzen lassen, schloß er endlich das Buch und gab es mit triumphirendem Lächeln an Trim zurück, damit dieser es wieder auf den Schreibtisch lege, von wo er es genommen. – So, sagte er, soll Tristram jedes Wort im Dictionnaire vor- und rückwärts konjugiren. Sie sehen, Yorick, daß auf diese Weise ein jedes Wort zur These und Hypothese wird, jede These und Hypothese wieder verschiedene Hauptsätze erzeugt, und jeder Hauptsatz wieder seine verschiedenen Schlüsse und Folgerungen mit sich bringt, die wiederum den Geist auf neue Wege der Untersuchung und des Zweifels leiten. Es ist eine bewunderungswürdige Maschinerie, um einem Kinde den Kopf zu erschließen. – Genug, Bruder Shandy, rief mein Onkel Toby, um ihn in tausend Stücke zu sprengen.

Ich vermuthe, sagte Yorick lächelnd, daß es diesem Verfahren allein zu verdanken ist (denn, was auch die Logiker sagen mögen, der bloßen Anwendung der zehn Kategorien kann das nicht zugeschrieben werden), wenn der berühmte Vicent Quirino unter andern staunenswerthen Leistungen seiner Kindheit, von denen Kardinal Bembo uns ausführlich berichtet, im Stande war, in dem so jugendlichen Alter von acht Jahren nicht weniger als viertausendfünfhundertundsechzig verschiedene Thesen, und zwar über die abstrusesten Fragen der abstrusesten Theologie, an die öffentlichen Schulen zu Rom anzuschlagen und sie so zu[68] vertheidigen und aufrecht zu erhalten, daß er alle seine Opponenten zu Boden schmetterte und zermalmte. – Was will das bedeuten gegen den großen Alphonsus Tostatus, rief mein Vater, von dem uns berichtet wird, daß er fast noch auf dem Arme der Wärterin alle Wissenschaften und freien Künste ganz ohne Lehrer erlernte? Und was sollen wir erst zu dem großen Peireskius sagen? – Das ist derselbe, rief mein Onkel Toby, von dem ich Dir einmal erzählte, Bruder Shandy, daß er fünfhundert Meilen weit zu Fuße gegangen sei, nämlich von Paris nach Scheveningen und von Scheveningen wieder zurück nach Paris, blos um Stevinus' fliegenden Wagen zu sehen. – Das war wirklich ein großer Mann, setzte mein Onkel Toby hinzu (womit er Stevinus meinte). – Ja, das war er, Bruder, sagte mein Vater (meinte damit aber Peireskius); er hatte seinen Geist so entwickelt und sich eine so erstaunliche Menge von Kenntnissen erworben, daß wir wohl einer Anekdote, die von ihm erzählt wird, Glauben schenken müssen, wenn wir nicht die Glaubwürdigkeit jeder Anekdote anzweifeln wollen; es wird nämlich von ihm berichtet, daß sein Vater ihm, als er erst sieben Jahr alt war, die Sorge für die Erziehung eines jüngern Bruders von fünf Jahren gänzlich übertragen habe, ohne sich im geringsten weiter darum zu bekümmern. – War der Vater ebenso klug als der Sohn? fragte mein Onkel Toby. – Ich sollte meinen nein, sagte Yorick. – Aber was sind diese Alle, fuhr mein Vater in einer Art Begeisterung fort, gegen jene Wunderkinder, gegen die Grotius, Scoppius, Heinsius, Politian, Pascal, Joseph Scaliger, Ferdinand von Cordova und Andere, von denen einige schon im neunten Jahre oder noch früher sich nur noch im Abstrakten bewegten, – andere ihre Klassiker siebenmal gelesen hatten, oder mit acht Jahren bereits Tragödien schrieben! Ferdinand von Cordova war mit neun Jahren so klug, daß man meinte, er sei vom Teufel besessen, und er gab in Venedig solche Beweise von seiner Gelehrsamkeit und seinen Gaben, daß die Mönche ihn für den Antichrist hielten. Andere konnten mit zehn Jahren vierzehn verschiedene Sprachen, beendigten ihren Cursus der Rhetorik, Poetik, Logik und Ethik mit elf, verfaßten ihre[69] Kommentarien zu Servius und Martianus Capella mit zwölf und wurden mit dreizehn zu Doktoren der Philosophie, Jurisprudenz und Gottesgelahrtheit promovirt. – Aber Sie vergessen den großen Lipsius, sagte Yorick, der an demselben Tage, an dem er geboren ward, schon ein Werk1 aufzeichnete. – Das hätte man wieder auswaschen sollen, sagte mein Onkel Toby, und damit war das Gespräch zu Ende.

Fußnoten

1 Nous aurions quelque intérêt, sagt Baillet, de montrer qu'il n'a rien de ridicule s'il étoit véritable, au moins dans le sens énigmatique que Nicius Erythraeus a tâché de lui donner. Cet auteur dit que pour comprendre comme Lipse a pu composer un ouvrage le premier jour de sa vie, il faut s'imaginer, que ce premier jour n'est pas celui de sa naissance charnelle, mais celui auquel il a commencé d'user de la raison; il veut que ç'ait été à l'âge de neuf ans; et il nous veut persuader que ce fut en cet âge, que Lipse fit un poëme. – Le tour est ingénieux, etc. etc.


Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 68-70.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tristram Shandy
Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman
Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman: (Reihe Reclam)
Tristram Shandy
Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (insel taschenbuch)
Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (insel taschenbuch)