9. Wahrer Traum

[73] 1.

Ich gieng' einmahl im Traum zu Schiffe

die Mele war mit mir mein Kind/

es bließ der linde Westen-Wind

als unser Schiff zu Lande lieffe.

Indehm entstund' ein Schiffgeschrey

daß diß das Innland Zypern sey.


2.

Als wir das Ufer nu gegrüsset

umfieng mich Mel' und sprach zu mir:[73]

Schaz/ laß uns schauen diß Revier/

das Tahl/ so iener Fluß begiesset/

und hier der Zinnen hohen Schein/

so fast die Wolken nehmen ein.


3.

Es war der Tempel der Dionen

um welchen der Poeten Schaar

so manchesmahl bemühet war/

wo Lieb' und Liebes-Kinder wohnen.

Sein Altertuhm und Göttligkeit

verkürzt' uns leichtlich Weg und Zeit.


4.

Wir kahmen zu den Marmortühren/

Kupido ließ uns bükkend ein/

die Priesterinnen schrekkt der Schein

der meine Schönheit pflegt zu zieren.

Sie schrien mit gebeugtem Knie:

hier ist die Venus/ hier ist Sie.


5.

Das Bild der Göttlichen Zytehren

verfärbte sich ob dem Altar.

Der Hauffe/ so im Tempel war

die Liebes-reizinn zu verehren

rieff läuter: der sonst keiner nicht

gebieret Ehre/ Würd' und Pflicht.


6.

Indehm bewegt ich mich im Schlaffe

der Traum verschwand/ Ich wurde wach

und dachte diesem Bilde nach.

Sich! (dacht' ich) daher rührt die Straffe.

Die Venus macht mir so viel Müh

weil Mele schöner ist/ denn Sie.


Quelle:
Kaspar Stieler: Die geharnschte Venus, Stuttgart 1970, S. 73-74.
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