Die Blicke

1774.


An Dora.


Röthliche, goldbesäumte Wolken hüllen

Ihre Strahlen nicht mehr! Sie kommt, die Sonne!

Blickt allgütig lächelnde Freud' und junges

Leben hernieder!


Schimmernder blüh'n die thaubenetzten Fluren;

Jedes zitternde Blümchen athmet Freude,

Strahlt in Regenbogen die Sonnenblicke

Lieblicher um sich.


Himmlischer aber lächelt mir das Auge,

Ach! das Grazienauge meines Mädchens!

Blicket mild in's Herz mir noch ungefühlte,

Selige Freuden!
[38]

Wallendes Leben bebt durch jede Nerve,

Klopft in jeglichem Pulse; frohe Schauer

Strömen in die trunkene Seele namenloses

Entzücken!


Aber ach! Wehmuth blickt mir oft ihr blaues

Auge! Wehmuth und Trübsinn! Dann entquellen

Sehnsuchtsseufzer, thaut mir der Liebe Zähre

Ueber die Wange!


Duftige Nebel locket so die Sonne

Aus dem Blumengefild' am Sommerabend;

Trübe steigt der wolkige Schleier, träufelt

Labende Kühlung. –


Blicke mir, meine Dora, blicke Wehmuth

Mir in's liebende Herz! Auch sie gewähret

Süßes namenloses Gefühl, der Liebe

Traute Gesellin!


Bis du mir einstens (Ahndung lispelt's leise

Ahndung, ach! die zur Hoffnung noch nicht reifte!)

Bis du Lieb' im schmachtenden Auge, Liebe,

Liebe mir lächelst!

Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 1, Hamburg 1820, S. 32-33,38-39.
Lizenz:
Kategorien: