Ode

Die Stunde der Gegenwart

[339] 1783.


Der Weise hebet oft zu der Zukunft hin

Den Blick und senkt ihn oft zur Vergangenheit,

Nur Er genießt in heiterm Gleichmuth,

Stunde der Gegenwart, deine Segen.


Ist sie's denn nicht, die ehmahl uns Zukunft war,

Und wird sie einst nicht seyn uns Vergangenheit?

Umschwebt sie mich nicht näher, als was

War, und als alles was einst noch seyn wird?


Trübt oft nicht Reu', umwölkt nicht Erinnerung

Ein ernstes Auge, wenn's in die Vorzeit schaut,

Färbt Aberwitz und Thorheit oftmahl

Nicht der Erwartungen buntes Spähglas?
[340]

O Labyrinth des Irrsals, du Menschenherz!

O Labyrinth des Irrsals mein eignes Herz!

Das für gehoffte, ferne Freuden

Oft die gewissen, die nahen, wegwarf!


Daß ich mir ämsig oft mit der Mühe Schweiß

Den Wermuthtrank der Reue bereitete,

Oft, die zum Kranz ich flocht, entblättert

Welkte die Rose, nur Dornen blieben.


Der Freude wallt das strebende Herz empor,

Doch dies verzagte, trotzige Mißgeschöpf

Pflanzt sich oft selbst des Kummers Keime,

Erndtet mit Schaam, was es mühsam säete.


Mit Bergstroms Eile fliehet die Stund' hinweg,

Stürzt jähling sich in's Meer der Vergangenheit,

Dort schifft in stiller Mondnacht oft, und

Oft die Erinnrung im Klippenstrudel.


Daß sie im Klippenstrudel nicht strande, daß

Sie schiff' in stiller, lieblicher Mondesnacht,

Daß sanft der Nachen gleite, Sterne

Unter ihm spiegeln und Fische scherzen,
[341]

Dies harret dein, wenn Weisheit die Blume des

Genusses pflücket, die dir im Pfade sproßt;

Den, der sie pflückt, den kränzt sie, hold ist

Ihm die Vergangenheit, ihm die Zukunft!

Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 1, Hamburg 1820, S. 339-342.
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