[110] 1777.
Du schmeichelst mein Ohr,
Ich kenne dein Rauschen,
Deiner Wogen Sirenen-Gesang!
Ost-See, du nahmst mich
Oft mit kosenden Armen
In den kühlenden Schoß!
[110]
Du bist schön!
Nymphe, schön!
Vertraute des waldichten Ufers,
Oft entschlüpfet der West den Wipfeln des Hains,
Und schwebet über dir hin mit gleitendem Flug
Du bist schön,
Nymphe, schön,
Aber die Göttin schöner als du!
Lauter, als du,
Donnert die Nord-See,
Steigend erhebt sich und weiß und gestaderschütternd ihr Fuß!
Stärker und freier, als du,
Tanzet sie eignen Tanz,
Lauschet nicht dienstbar der Stimme
Herrschender Winde;
Steiget und sinkt,
Wenn, mit Wolken umschleiert,
In geheimer Halle schlummert des Sturmes Haupt!
Ich sah die Kiele
Blitzgewaffneter Schiffe
Eilen über ihr hin,
Wenn die Flagge sank,
Und der züngelnde Wimpel sank
Und das Säuseln in Hellebeks Buchen schwieg.
Wie nennet dich mein Gesang!
Nord-Meer, Welt-Meer, Göttin, Unendliche,
Erdumgürtende, Wiege der allerleuchtenden
Sonne, des himmelwandelnden
Mondes und zahlloser
Sterne, die in melodischem
Tanze sich spiegeln, wenn steiget die Well' und hinab sich senkt.
[111]
Auf deinen Wassern
Schwebete Gottes Geist,
Als noch die Erde
Lag in traurender Stille,
Mutterfreuden kannte noch nicht!
Über dir wehet,
Hehr und geheimnisvoll,
Flutend und ebbend,
Sichtbar noch des Allmächtigen Hauch!
Auf hoher Entzückung
Steigendem Flügel
Flog dir entgegen mein Geist;
Göttin, ich flehte:
Nimm mich, o Göttin,
Nimm mich in deinen mächtigen Schoß!
Aber du eiltest
Stolz mir und donnernd vorbei,
Da spannt' ich die Flügel
Des Wogendurchwallers,
Und schwebte zum ferneren Ufer hin.
Du donnertest lauter
Am Felsen-Gestade,
Ich eilte hinan
Das Felsen-Gestade,
Und eilte hinab,
Da faßt' ich dich, Göttin,
Mit nervichtem Arm,
In der Felsen-Halle!
Über mir hingen
Dräuende Gipfel;
Strudelnde Fluten
Drängten durch Klüfte der Felsen sich durch!
Und wohl mir ward
In der Göttin Schoß,
An der Unsterblichen
Wallenden Busen![112]
Heil dir, Heil,
Göttin, und Dank,
Für den seligen Genuß
In der Felsen-Halle!
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