6. An den Abendstern

[40] 6. Januar 1773.


Ehmals winktest du mir, Führer des schweigenden

Abends, Freuden herab, kurz, wie sie Sterblichen

Lächeln, farbigen Blasen

Ähnlich, hauchender Weste Spiel!


Zwar mir waren sie wert, wert, wie dem dürstenden

Weizenhalme der Tau! aber sie schwanden bald!

Selten blicket dein Auge

Nun, und trüber auf mich herab!


Hüllen Schleier dich ein? Oder entfließen dir

Thränen? Bist du, gleich mir, nagender Traurigkeit

Raub, ein Erbe des Jammers?

Deine strahlenden Brüder auch?


Ist das blaue Gewand leuchtender Sonnen voll,

Und mit Monden besä't, nur ein Gewebe von

Elend? Tönen die Sphären

Einen ewigen Klageton?


Oder bin ich allein elend? Du schweigest mir,

Unerbittlich auch du! dennoch ein Retter einst,

Wann den Abend du bringest,

Welchem folget kein Morgenrot!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 40.
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