74. Der späte Frühling

[139] Den 18. April 1782.


Das Frühjahr ist kommen, der Frühling noch nicht:

Noch macht die Natur uns ein saures Gesicht,

Noch dräuen die Wolken uns Schloßen und Schnee,

Noch spiegelt sich dürstend im Eise das Reh.
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Der Frost hat das niedrige Veilchen erstickt,

Und die Knospe der hohen Kastanie geknickt:

Es starb in der Knospe die Blüte vom Wind,

So stirbt in der sterbenden Mutter ihr Kind.


Die Pflänzchen im Garten sind gelb und erstarrt;

Es seufzet der Stier, denn der Boden ist hart;

Die Schwalbe verbirgt sich; die Glucke verläßt

Die sterbenden Küchlein, erstarret im Nest.


Doch hat sich der Storch auf dem Kirchturm gezeigt;

Auch sah ich die Nachtigall, aber sie schweigt.

O Nachtigall, Nachtigall, nimm dich in acht:

Die Stauden sind nacket, und kalt ist die Nacht!


Langbeinigter Küster, du klapperst zu früh

Im sausigen Kirchturm; kein Frühling ist hie!

O sei mir in Zukunft kein Lügenprophet,

Wenn mein Weibchen zuerst auf dem Turm dich erspäht!


Dann tön' in den Erlen das Bächlein entlang

Dem brütenden Weibchen der Nachtigall Sang!

Es lausche mein brütendes Weibchen zugleich!

Du aber, o Kuckuck, ich warne dich, schweig!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 139-140.
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