93. Lied

[168] 1791.


Wo ich als ein Pilger walle,

Säumet gern und oft mein Fuß;

Denn in der Erinnrung Halle

Trag' ich fliehenden Genuß;

Dieser Tempel ist mir heilig,

Und die Muse pfleget sein.

Sei der Sohn der Sorge eilig;

Mit der Freude Thräne weil' ich

Vor des Heiligtumes Schrein.


Meiner Jugend Blume blühet

Dort vom Morgentaue frisch;

Reif von Mittagssonne glühet

Süße Frucht auf meinem Tisch!

Denn die immerjungen Horen

Wollen mir gewogen sein;

Als die Mutter mich geboren,

Sangen sie vor zarten Ohren

Ahndendes Gefühl mir ein.
[168]

Wie Aprilgewölk den blauen

Himmel birget und enthüllt,

Ward von Wonn' und bangem Grauen

Da mein junges Herz erfüllt.

Wie die Götter gehn und kommen,

Unsichtbar dem äußern Sinn,

Ungesehn, doch wahrgenommen,

Blickten scheidend auch die frommen

Horen nach dem Knaben hin.


Und da trat an meine Wiege

Eine junge Muse hin;

Wo ich geh' und wo ich liege,

Schwebt sie her, und schwebt sie hin,

Ist ein wunderbares Mädchen,

Kommt und gehet wie sie will,

Sitzt an ihrem Zauberrädchen,

Spinnet zarte goldne Fädchen,

Aber sitzet selten still.


Frei, doch häuslich, wie ein Täubchen,

Fleugt sie aus, und fleugt sie ein;

Trägt mir manches grüne Läubchen

In des Lebens Arch' hinein;

Fügte, als ich einsam weinen

Wollte, sich in meinen Sinn,

Um mir wieder zu erscheinen;

Und als Engel trat vor meinen

Trüben Blick sie freundlich hin.


Bleib bei mir in meinem Leben,

Himmelskind, verlaß mich nicht!

Wollest freundlich mich umschweben,

Wenn mein Herz im Tode bricht!

Höre, was ich noch verlange!

Dann noch flüstre mir ins Ohr,

Daß in heil'gem Schwanensange,

Und der Flügel Silberklange

Meine Seele steig' empor!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 168-169.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Rameaus Neffe

Rameaus Neffe

In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon