1.

[129] Du glaubtest nicht an frohe Tage mehr,

Verjährtes Leid ließ nimmer dich genesen;

Die Mutterfreude war für dich zu schwer,

Das Leben war dir gar zu hart gewesen. –


Er saß bei dir in letzter Liebespflicht;

Noch eine Nacht, noch eine war gegeben!

Auch die verrann; dann kam das Morgenlicht.

»Mein guter Mann, wie gerne wollt ich leben!«


Er hörte still die sanften Worte an,

Wie sie sein Ohr in bangen Pausen trafen:

»Sorg für das Kind – ich sterbe, süßer Mann.«

Dann halb verständlich noch: »Nun will ich schlafen.«


Und dann nichts mehr; – du wurdest nimmer wach,

Dein Auge brach, die Welt ward immer trüber;

Der Atem Gottes wehte durchs Gemach,

Dein Kind schrie auf, und dann warst du hinüber.

Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 129.
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