Geh nicht hinein

[192] Im Flügel oben hinterm Korridor,

Wo es so jählings einsam worden ist

– Nicht in dem ersten Zimmer, wo man sonst

Ihn finden mochte, in die blasse Hand[192]

Das junge Haupt gestützt, die Augen träumend

Entlang den Wänden streifend, wo im Laub

Von Tropenpflanzen ausgebälgt Getier

Die Flügel spreizte und die Tatzen reckte,

Halb Wunder noch, halb Wissensrätsel ihm

– Nicht dort; der Stuhl ist leer, die Pflanzen lassen

Verdürstend ihre schönen Blätter hängen;

Staub sinkt herab; – nein, nebenan die Tür,

In jenem hohen dämmrigen Gemach

– Beklommne Schwüle ist drin eingeschlossen –,

Dort hinterm Wandschirm auf dem Bette liegt

Etwas – geh nicht hinein! Es schaut dich fremd

Und furchtbar an.

Vor wenig Stunden noch

Auf jenen Kissen lag sein blondes Haupt;

Zwar bleich von Qualen, denn des Lebens Fäden

Zerrissen jäh; doch seine Augen sprachen

Noch zärtlich, und mitunter lächelt' er,

Als säh er noch in goldne Erdenferne.

Da plötzlich losch es aus; er wußt es plötzlich

– Und ein Entsetzen schrie aus seiner Brust,

Daß ratlos Mitleid, die am Lager saßen,

In Stein verwandelte –, er lag am Abgrund;

Bodenlos, ganz ohne Boden. – »Hilf!

Ach Vater, lieber Vater!« Taumelnd schlug

Er um sich mit den Armen; ziellos griffen

In leere Luft die Hände; noch ein Schrei –

Und dann verschwand er.

Dort, wo er gelegen,

Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt

Jetzt etwas; – bleib, geh nicht hinein! Es schaut

Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage

Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt.

»Und weiter – du, der du ihn liebtest –, hast

Nichts weiter du zu sagen?«

Weiter nichts.
[193]

Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 192-194.
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