1.

[125] Sie saßen sich genüber bang

Und sahen sich an in Schmerzen;

Oh, lägen sie in tiefster Gruft

Und lägen Herz an Herzen! –


Sie sprach: »Daß wir beisammen sind,

Mein Bruder, will nicht taugen!«

Er sah ihr in die Augen tief:

»O süße Schwesteraugen!«


Sie faßte flehend seine Hand

Und rief: »O denk der Sünde!«

Er sprach: »O süßes Schwesterblut,

Was läufst du so geschwinde!«


Er zog die schmalen Fingerlein

An seinen Mund zur Stelle;

Sie rief: »Oh, hilf mir, Herre Christ,

Er zieht mich nach der Hölle!«


Der Bruder hielt ihr zu den Mund;

Er rief nach seinen Knappen.

Nun rüsteten sie Reisezeug,

Nun zäumten sie die Rappen.


Er sprach: »Daß ich dein Bruder sei,

Nicht länger will ich's tragen;

Nicht länger will ich drum im Grab

Vater und Mutter verklagen.
[125]

Zu lösen vermag der Papst Urban,

Er mag uns lösen und binden!

Und säß er an Sankt Peters Hand,

Den Brautring muß ich finden.«


Er ritt dahin; die Träne rann

Von ihrem Angesichte;

Der Stuhl, wo er gesessen, stand

Im Abendsonnenlichte.


Sie stieg hinab durch Hof und Hall'

Zu der Kapelle Stufen:

»Weh mir, ich hör im Grabe tief

Vater und Mutter rufen!«


Sie stieg hinauf ins Kämmerlein;

Das stand in Dämmernissen.

Ach, nächtens schlug die Nachtigall;

Da saß sie wach im Kissen.


Da fuhr ihr Herz dem Liebsten nach

Allüberall auf Erden;

Sie streckte weit die Arme aus:

»Unselig muß ich werden!«

Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 125-126.
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