2.

[126] Schon war mit seinem Rosenkranz

Der Sommer fortgezogen;

Es hatte sich die Nachtigall

In weiter Welt verflogen.


Im Erker saß ein blasses Weib

Und schaute auf die Fliesen;

So stille war's: kein Tritt erscholl,

Kein Hornruf über die Wiesen.
[126]

Der Abendschein alleine ging

Vergoldend durch die Halle;

Da öffneten die Tore sich

Geräuschlos, ohne Schalle.


Da stand an seiner Schwelle Rand

Ein Mann in Harm gebrochen;

Der sah sie toten Auges an,

Kein Wort hat er gesprochen.


Es lag auf ihren Lidern schwer,

Sie schlug sie auf mit Mühen;

Sie sprang empor, sie schrie so laut,

Wie noch kein Herz geschrieen.


Doch als er sprach: »Es reicht kein Ring

Um Schwester- und Bruderhände!«

Um stürzte sie den Marmortisch

Und schritt an Saales Ende.


Sie warf in seine Arme sich;

Doch wer sie bleich zum Sterben.

Er sprach: »So ist die Stunde da,

Daß beide wir verderben.«


Die Schwester von dem Nacken sein

Löste die zarten Hände:

»Wir wollen zu Vater und Mutter gehn;

Da hat das Leid ein Ende.«

Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 126-127.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1885)
Gedichte
Laß mich ruhn in deinem Arm: Die schönsten Liebesgedichte. Ausgewählt von Hark Bohm (Lyrik)
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gesammelte Werke: Gedichte, Märchen und Spukgeschichten, Novellen