Wohl fühl ich, wie das Leben rinnt

[120] Wohl fühl ich, wie das Leben rinnt

Und daß ich endlich scheiden muß,

Daß endlich doch das letzte Lied

Und endlich kommt der letzte Kuß.


Noch hing ich fest an deinem Mund

In schmerzlich bangender Begier;

Du gibst der Jugend letzten Kuß,

Die letzte Rose gibst du mir.
[120]

Du schenkst aus jenem Zauberkelch

Den letzten goldnen Trunk mir ein;

Du bist aus jener Märchenwelt

Mein allerletzter Abendschein.


Am Himmel steht der letzte Stern,

O halte nicht dein Herz zurück;

Zu deinen Füßen sink ich hin,

O fühl's, du bist mein letztes Glück!


Laß einmal noch durch meine Brust

Des vollsten Lebens Schauer wehn,

Eh seufzend in die große Nacht

Auch meine Sterne untergehn.

Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 120-121.
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